Estland verabschiedet Souveränitätserklärung

■ Nach dem Willen der Sowjetrepublik soll der künftige Status in einem Vertrag „auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ ausgehandelt werden / Oberster Sowjet kündigt „ausführliches Gutachten“ und Erörterung an / Ähnliche Bestrebungen im baltischen Litauen

Tallinn (dpa/afp/ap/taz) - In Estland hat am Mittwoch zum ersten Mal seit dem Bestehen der UdSSR der oberste Sowjet einer Republik über deren Souveränität debattiert. Mit einer überwältigenden Mehrheit von 258 gegen eine Stimme bei fünf Enthaltungen verabschiedete das oberste gesetzgebende Gremium dieser baltischen Republik eine „Souveränitätserklärung“, die zugleich einen Verhandlungsauftrag einschließt: der zukünftige Status Estlands „innerhalb der Struktur der Sowjetunion“ soll in einem Vertrag mit der Gesamtunion „auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ festgelegt werden. Ferner wurde gefordert, das bisherige Recht der Sowjetrepubliken, auf Wunsch aus der Union auszuscheiden, müsse erhalten bleiben.

In der neuen Unionsverfassung, die am 29.November im Obersten Sowjet in Moskau verabschiedet werden soll, ist dieses Recht ersatzlos gestrichen. Als Voraussetzung für weitere gesetzgeberische Entscheidungen strichen die Delegierten zuerst einmal einen Passus aus dem bisherigen Grundgesetz, wonach Veränderungen der estnischen Verfassung vom Obersten Sowjet in Moskau bestätigt werden müssen. Die wichtigste weitere Resolution sieht vor, daß sowjetische Gesetze in Estland ausschließlich „nach ihrer Registrierung durch das Präsidium des Obersten Sowjet der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ Gültigkeit erlangen. Praktisch will man sich ein Vetorecht gegenüber aus Moskau kommenden Gesetzen vorbehalten.

Zum Schluß seiner Sitzung wählte das Parlament in Tallinn am Mittwoch den Sprecher der estnischen Volksfront, Indrek Toome, einstimmig zum neuen estnischen Ministerpräsidenten. Alle Beschlüsse werden von der estnischen Regierung und vom Zentralkomitee der estnischen KP unterstützt. Die Resolutionsformel des estnischen Obersten Sowjet ist eine Kompromißformel. Der ursprüngliche Entwurf hatte eine vollständige Verfassungsänderung gefordert. Die UdSSR -Führung hatte sich in diesem Punk unnachgiebig gezeigt, hatte aber angekündigt, daß die Autonomierechte der Republiken Gegenstand einer weiteren Verfassungsnovellierung im Sommer sein würden.

Auch der oberste Sowjet Litauens trat am Donnerstag in Vilnius (Wilna) wegen dieser Frage zusammen; die Tagung wurde dort ebenfalls direkt von Fernsehen und Rundfunk übertragen. Bei Redaktionsschluß wurden ähnliche Beschlüsse wie in Estland erwartet. Die drei Politbüromitglieder Medwedjew, Slunkow und Tschebrikow, die vorige Woche die baltischen Republiken bereisten, hatten noch am Dienstag in der Prawda die dortigen KP-Führungen scharf gerügt. Sie warfen ihnen die Duldung national-emanzipatorischer Bestrebungen vor, Intoleranz gegenüber zugewanderten Russen und einen „Mißbrauch der Reformen“, der unterbunden werden müsse. Die offizielle Nachrichtenagentur 'Tass‘ konzidierte nach dem Beschluß des estnischen obersten Sowjet, die Mehrheit der Bewohner Estlands glaube, daß einige Punkte der Reform nicht mit den Prinzipien der Souveränität der Sowjetrepubliken im Einklang stünden. Die beschlossenen Änderungen berührten allerdings „Aufbau und Einheit“ der Sowjetunion und wichen von der gültigen Verfassung der UdSSR ab. Wie 'Tass‘ am Donnerstag meldete, hat das Präsidium des Obersten Sowjet der UDSSR ein „ausführliches Gutachten“ zu den vorliegenden Verfassungsänderungen in Auftrag gegeben. Das Präsidium habe beschlossen „diese Frage auf seiner nächsten Sitzung zu erörtern und dazu Vertreter der estnischen SSR einzuladen“.

B.K.