Brillen-Boom-Weihnacht

■ Dieses Jahr sind zu Weihnachten nicht so sehr Schlipse und Socken im Rennen, sondern Brillen, Zahnersatz, Einlagen / Gesundheitsreform wirft ihre Kosten voraus / Drastischer Geschäftsrückgang '89

Über 600 Änderungsanträge liegen den Bonner ParlamentarierInnen vor, die sich in diesen Wochen mit den Entwürfen der Bundesregierung für das Gesundheits -Reformgesetz befassen. Derzeit weiß niemand so richtig, was dabei endgültig herauskommen wird. Trotzdem gibt es schon jetzt erhebliche Unruhe, insbesondere unter den PatientInnen: Pünktlich vor dem großen Fest ist auch im Gesundheitsbereich das Weihnachtsgeschäft ausgebrochen - so heftig wie noch in keinem Jahr zuvor. Auf fast alles, was ab Beginn des kommenden Jahres aus den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung herausgestrichen werden soll, hat ein Run eingesetzt. Fachleute sprechen spöttisch vom „Blüm-Bauch“.

Die geplanten Neuerungen und der politische Entscheidungsprozeß sind unübersichtlich, die PatientInnen aufgeschreckt. „Als ob man in ein Wespennest gestochen hätte“, sagt Günter Assmann, Inhaber eines zahntechnischen Labors mit etwa 20MitarbeiterInnen. Trotz Überstunden können die Termine nicht mehr eingehalten werden, so groß ist die Nachfrage der ZahnärztInnen nach Zahnersatz. Und auch sie können dem Andrang nur schwer stand

halten: Zahnarzt-Termine in diesem Jahr sind kaum noch zu bekommen.

Der Grund für diesen massenhaften Arztbesuch ist nicht etwa ein epidemieartiger Ausbruch von Zahnschmerzen und Zahnausfall, sondern eine einfache, finanzielle Überlegung: Vom 1. Januar des kommenden Jahres an wird die Krankenkasse bei Zahnersatz nur noch zwischen 45 und 60 Prozent der Gesamtkosten erstatten. Bisher übernehmen die Kassen die Zahnarztkosten in voller Höhe und die Labor- und Materialkosten zu 60 Prozent. In diesem Bereich weist der „Blüm-Bauch“ seine größten Ausprägungen auf: Im ersten Halbjahr 1988 sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenverischerung für Zahnersatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 17,8 Prozent gestiegen. Die Allgemeine Ortskrankenkasse in Bremen spricht sogar von einer Steigerung von über 30 Prozent in den letzten Monaten. Demgegenüber haben sich die Kosten für Zahnbehandlungen nur unwesentlich erhöht. Hier wird es aber auch keine gravierenden Änderungen durch das neue Gesetz geben.

Auch bei der Anschaffung einer neuen Brille müssen lange Wartezeiten eingeplant werden

wenn es in diesem Jahr überhaupt noch etwas wird: Volle Wartezimmer bei den AugenärztInnen, bei den OptikerInnen Zuwächse zwischen 10 und 15 Prozent und erste Schwierigkeiten bei der Lieferung von Brillengläsern. Denn auch hier sind gravierende Änderungen zu erwarten.

Für Brillengläser und -gestelle soll es in Zukunft Festpreise geben. Das heißt, daß nur bestimmte Beträge von den Kran

kenkassen ersetzt werden, unabhängig von den für den Patienten wirklich entstandenen Kosten. So sollen für Brillengestelle in Zukunft nur 20 Mark erstattet werden. Neue Brillen soll es in Zukunft auf Kosten der Krankenkasse nur dann noch geben, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung der Sehfähigkeit eintritt. Bisher konnte nach drei Jahren eine neue Brille von der Kasse mitfinanziert werden.

Nach Beobachtungen von AugenärztInnen wird der sogenannte Mitnahmeeffekt von älteren MitbürgerInnen am wenigsten praktiziert, obwohl diese von der Gesundheitsreform am stärksten betroffen sind.

Im orthopädischen Handel wird der Umsatz-Zuwachs ebenfalls wesentlich von den gesundheitspolitischen Planungen der Bundesregierung ausgelöst, hält sich aber eher in Grenzen. Von 5 bis 7 Prozent für das gesamte Jahr 1988 ist die Rede. Neben kleinen medizinischen Hilfen wie Einlagen und Gummistrümpfen, die ab dem kommenden Jahr von den Kassen überhaupt nicht mehr ersetzt werden, werden auch größere Hilfsmittel wie zum Beispiel Rollstühle stärker gekauft. Für diese medizinischen Artikel soll es in Zukunft ebenfalls Festpreise geben. „Hier werden zum Teil Neuanschaffungen, die erst in der nächsten Zeit angestanden hätten, vorgezogen“, sagt Alfred Giesau, Obermeister der Innung für Orthopädietechnik in Bremen. Er befürchtet denn auch, daß es im kommenden Jahr einen erheblichen Geschäftsrückgang geben wird. „Das ist für eine so personalintensive Branche wie bei uns sehr problematisch“, so Giesau.

Während also ParlamentarierInnen aller Couleur ihre Meinungen zu den bevorstehenden Veränderungen im Gesundheitswesen in wohlgesetzten Worten und einer Vielzahl von Gremiensitzungen zum Ausdruck bringen, äußern sich die Betroffenen sehr konkret. Jedenfalls steht eines fest: Das von Blüm beabsichtigte Ziel der Einsparungen im Gesundheitsbereich hat sich wenigstens in diesem Jahr in sein Gegenteil verkehrt - der „Blüm-Bauch“ ist ein Bierbauch geworden. om