EIN CHAMÄLEON IST EIN CHAMÄLEON

■ Die Tanzfabrik vertanzt „Rut3“ und „Schwitters Ursonate“

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bette zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartigen harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch...“ So beginnt Kafka seine berühmte Erzählung von der rätselhaften Verwandlung des Gregor Samsa in ein Ungeziefer.

Auch in der Tanzfabrik scheint eine Verwandlung stattgefunden zu haben. Wenn zu Beginn des neuen Stücks „Rut3“ ein Fabelwesen von oben in den Tanzraum hinabsteigt, erscheint ein Chamäleon. Katharina Rustlers Körpersprache, zusammengesetzt aus dem Bewegungs-ABC Ruck, Nachvibrieren und Innehalten, berichtet von der fremden und seltsamen Welt der Kaltblüter. Staunend über ihre Kunst der Verwandlung blicke ich durch die Glaswand des Terrariums, an der die zoologischen Erklärungsschildchen fehlen, auf dieses schöne Reptil in seiner schwarzen Schuppenhaut. Und frage mich, tanzt, hüpft, ruckt da ein „ungeheures Ungeziefer“, ein Käfer, ein Insekt oder wirklich ein Chamäleon?

Leider erlahmt das Interesse, sobald in den Kollegen Rainer Knupp und Calvann Cole (Ersatz für Antja Kennedy) - in weinrot und fliederfarbenen Bodysuits - das Tier im Menschen erwacht. Durch die Glaswand des Terrariums wird nun via Körpersprache gemorst: Jacalyn Carley setzt mit der Rut3 -Choreographie (nach Rut2 und Rut!) die Erforschung des Liebeslebens der Tierwelt fort. Also bitte: etwas tierisches Balzverhalten, ein Viertel Pfund Konkurrenzgerangel um das Weibchen und zum Abschluß eine Prise Begattungsgeruckel. So kann die gründliche Aufarbeitung von Herbert Wendts Klassiker „Liebesleben in der Tierwelt“, die die Choreographin sich wohl in den Kopf gesetzt hat, problemlos als Anschlußprojekt von Rut4ff. geplant werden. Für meinen Geschmack wird allerdings das grundsätzlich Fremde, Sprachverschlossene des Tieres, das doch den Tänzer in die Verwandlung gelockt, wieder verschenkt, wenn zur Befriedigung eines vorausgesetzten Voyeurismus gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen Tier und Mensch die animalische Sexualität oder eben „Das Liebesleben in der Tierwelt“ gewählt wird.

Anders verhält es sich mit der Choreographie zu Kurt „Schwitters Ursonate“, die nach der Pause in der Tanzfabrik gezeigt wurde. Das Stück allein ist bei der gegenwärtigen Dada-Renaissance schon fast ein Bestseller zu nennen, die Tanzfabrik zeigt Schwitters Ursonate schon seit 1982. Jetzt hat man mit neuer Besetzung eine veränderte Fassung erarbeitet. Klaus Lochthove rezitiert virtuos und für gewöhnlich live, diesmal allerdings wegen Heiserkeit vom Tonband, den überaus komplizierten Text.

Die Ursonate wird, wie Schwitters sagt, für jeden zum Rohmaterial eigener Phantasie. So halten es auch die fünf Tänzerinnen in ihren weißen Kostümen, welche die charakteristischen Stilmerkmale der zwanziger Jahre collagierend verfremden. Wie Impulsgeber lösen die Klangkombinationen des Lautgedichts die unterschiedlichsten tänzerischen Reaktionen auf der Bühne aus. Einmal wird ein schwer tropfendes „O“ vom Anfang der Tänzerkette wie durch eine Reihe einstürzender Dominosteine weiter gereicht, ein ander Mal vergegenständlicht sich das monoton wiederholte „Grimm glimm gnimm bimbimb“ zum abgeklappten Unterarm der Tänzer, der wie ein Glockenklöppel leise ausschwingt. Es sind auffälligerweise die komischen darstellerischen Lösungen mit Mut zum Witz, die für mich die Vertanzung von Schwitters Ursonate sinnvoll machen.

Susanne Raubold

Termine siehe LaVie