DEKADENTE JEDERMANNS

■ „Don Quijote“, ein mimisches Drama im „Theater am Ufer“

Don Quijote, das war bislang immer eine scharf geschnittene Silhouette am Horizont. Irgendwo in der weiten und heißen Ebene des spanischen Zentralmassivs ritt ein langer, schlaksiger Mann auf seinem müden alten Pferd dahin, und hinterher trottete zuverlässig, wie das bei literarischen Dienern üblich ist, Sancho Pansa. Dieser Schattenriß gehört zu Spanien wie der schwarze Osborne-Stier an der Überlandstraße.

Auch blieb er immer in der gleichen Entfernung, man wußte nicht recht, warum er scheuer war als seine literarischen Kollegen, Don Juan, Hamlet oder Faust, die regelmäßig in der Gegenwart auftauchen. Vielleicht sind es die Ritterromane, die immer noch in seinem Kopf herumspuken und ihn von uns fernhalten.

Im Theater am Ufer hat der polnische Regisseur Dzidek Starcynowski nun die Blickrichtung geändert und läßt in einem mimischen Drama, bestehend aus Epilog, Prolog und sieben Bildern, eine neue Geschichte um Don Quijote entstehen. Mit hoher technischer Perfektion stellen fünf polnische Mitglieder des Warszawski Teatr Pantomimy die Bilderwelten aus Don Quijotes unglücklichen Abenteuern dar, die sich auf die heutige Welt beziehen.

Eingebettet in die Rahmenhandlung von der Erschaffung dieses idealistischen, also altmodischen Helden durch die moderne Gesellschaft, die ihn als Leidensfigur vorführt, um deren Idealismus per se als aussichtslos und unzeitgemäß zu diskreditieren, werden komplex und mit vielen Anspielungen auf die Religion, die Stellung der Kirche und die Situation in Polen die Stationen eines ganz gegenwärtigen Leidensweges passiert.

Immer wieder tauchen bekannte Gesichter aus Film und Fernsehen auf, so stolpert auch der Homunculus, der künstliche Mensch mit seiner Narbe, den struppigen Haaren und dem holprigen Gang als Sklave der Lüste in die Arena der Despoten. Und auch die Herrschaft der Bürokratie über die Untertanen wird aufs sinnfälligste gezeigt. Auf den Tisch des Technokraten müssen die Untertanen ihr Allereigenstes (und Liebstes), symbolisiert durch das Geschlecht, legen, um dann als „dressierte und kastrierte Schafe“ unter eben diesen Tisch geduckt zu werden.

Statt eines Vorhanges fahren für das nächste Bild die schwarzen Schiebewände an die vordere Kante des Bühnenraums, der mit gold-gelben Sand in der Mitte und nur wenigen rollbaren Requisiten leicht und flexibel ausgestattet ist und den überaus präzisen, aber spielerisch leichten Stil des Mimodramas unterstützt.

Die „Prozession der toten Seelen“ zeigt das Fremde, fast Unverständliche, die strenge, ja fanatische Religiosität, von der sowohl die polnische wie auch spanische Geschichte durchzogen ist. Da bewegen sich in einer Reihe Weihrauch schwenkende Kirchendiener, die Sekte der Flagellanten, die sich mit Selbstgeißelung in Extase bringen, und dazwischen, nicht etwa wie sich das für eine mittelalterliche Prozession gehört, das Standbild der Jungfrau Maria, sondern ein leerer gotischer Thron, auf dem ein rotes, leeres Papstgewand die ständige Abwesenheit des Besitzers versinnbildlicht.

Daß Don Quijote keinerlei Chance hatte gegen die Gesellschaft, die ihn auf die Traum- und Bilderreise schickte, war schnell klar, jetzt schließt sich der Rahmen des mimischen Dramas. Unter dem Galgen des unglücklichen Helden nimmt noch einmal die dekadente Gesellschaft von streng maskierten Jedermanns Aufstellung. Wie die Großwildjäger posiert man neben der Leiche zu einem grotesken Gruppenbild, und alle halten Glas und Strohhalm in der Hand.

Susanne Raubold

Theater am Ufer, Telefon 2513116, Tempelhofer Ufer 10, 1/61, 2.HH, 2St., U-Bahn Möckernbrücke, Hallisches Tor. Jeweils um 20.30Uhr, 19.-23. (Sa.-Mi.) und 26.-30. November