Afrika liegt um die Ecke: Die Goutte d'Or, ältestes Pariser Ausländerviertel, verschwindet unter Presslufthämmern offizieller Abrißpolitik

Michael Thoss AFRIKA LIEGT UM DIE ECKE

Die Goutte d'Or, ältestes Pariser Ausländerviertel, verschwindet unter Oberbürgermeister Chiracs Preßlufthammern der Abrißpolitik

Nur wenige hundert Meter unterhalb des Sacre Coeur taucht der Spaziergänger in die Atmosphäre arabischer Bazare und afrikanischer Stoffmärkte ein. In dem Pariser Stadtviertel La Goutte d'Or, das seine Bewohner liebevoll „le village“ - das Dorf - nennen, fühlt er sich in eine andere Welt, südlich des Mittelmeeres, versetzt. Aus den zahlreichen arabischen Cafes, von denen das erste bereits in den zwanziger Jahren öffnete, dringen für europäische Ohren ungewohnte Rhythmen und Chromatiken. Anstelle von Akkordeonmusik geben unterhalb des Montmartre heute die Beduineninstrumente Derbuka und Kashba den Ton an.

Die erste Einwanderungswelle im 19.Jahrhundert verwandelte dieses Dorf vor den Toren von Paris in jene Arbeitervorstadt, die Emile Zola in seinem Roman „Germaine“ unvergeßlich machte. Die neuerrichteten Unterkünfte an den Südhängen des Montmartre verdrängten die seit dem Mittelalter dort angebauten Weinreben, die eben jenen güldenen Tropfen - la goutte d'or - ergaben, nach dem das Viertel heute benannt ist.

Der Bau des Nordhafens nach den Plänen des in Paris lebenden Kölner Architekten Hittorf zog Wanderarbeiter aus Italien und der Bretagne an. Nach der Niederlage im Jahre 1871 fanden Elsässer und Lothringer hier eine neue Heimat. Die ersten nordafrikanischen Einwanderer ließen sich nach dem Ersten Weltkrieg in der Goutte d'Or nieder, nachdem sie in vorderster Frontlinie gegen die wilhelminischen Truppen gekämpft hatten. Die Nordafrikaner stellen gegenwärtig noch ungefähr die Hälfte der Einwohner im Viertel dar, auch wenn ihr Anteil zugunsten anderer Ausländergruppen seit Jahren kontinuierlich abnimmt.

In dem sechs Hektar großen Ausländerviertel befinden sich mehr als 300 Läden, Bistros und Restaurants. Entlang der Boulevards werden Güter aus vier Kontinenten umgeschlagen, Straßenhändler bieten Golduhren, Ventilatoren und Teekannen als Dutzendware feil. Unter einer MetroÜberführung liegt der preiswerteste Obst- und Gemüsemarkt von Paris, gegenüber, in Hinterhöfen aus dem letzen Jahrhundert, werden Hammel nach islamischem Ritual geschlachtet. Die zahlreichen arabischen Metzgereien verkaufen Tonnen von Hammelfleisch nicht nur ein Dirttel billiger als ihre französische Konkurrenz, seine Qualität ist auch so berühmt, daß einige Botschaften der islamischen Welt dort ihre Großbestellungen für die höchsten religiösen Feste aufgeben.

Das bei weitem bunteste Fest in der Goutte d'Or ist der Fastenmonat Ramadan, dann pilgern Tausende von Moslems aus den Ausländerghettos der Pariser Vorstädte hierher, um sich die nötigen Zutaten für das traditionelle Nachtmahl zu besorgen. Paris - Stadt der

Schönen und Reichen

Doch wenn der Ramadan zu Ende geht und die Gläubigen sich auf ihren Gebetsteppichen vor der überfüllten Moschee 'El Fatah‘ ein letztes Mal gegen Mekka verneigen, täuscht keine farbenprächtige Fassade mehr über den Niedergang des ältesten Pariser Ausländerviertels hinweg. Denn dieser Schmelztiegel im Herzen der Hauptstadt ist der Abrißpolitik des Oberbürgermeisters Chirac zum Opfer gefallen und gerät zusehends unter den Preßlufthammer. Rund ein Drittel der Wohn- und Geschäftsflächen soll bis 1990 verschwunden sein, die hier wohnende Bevölkerung in die Betonburgen der Vorstädte verteilt werden. Eine von der Stadtverwaltung beauftragte Kommission hat sich zwar für die Erhaltung der Bausubstanz ausgesprochen und sogar nachweisen können, daß eine Renovierung der Gebäude im Louis-Philippe-Stil billiger käme als die geplanten Neubauten, trotzdem schreiten die Abbrucharbeiten weiterhin unaufhaltsam voran.

Der katastrophale Zustand der sanitären Einrichtungen, die jahrelang bewußt vernachlässigt wurden, liefert heute die nötige Munition für eine städtische „Sanierungspolitik“, welche die letzten sozialen Freiräume der Hauptstadt zu kapitalisieren trachtet. Monique Bouvard, Krankenschwester mit eigener Praxis, befindet sich seit Jahren jeden Nachmittag auf Außendienst im Viertel. Sie weiß von vielen Fällen alter und kranker Menschen zu berichten, die aufgrund der Baufälligkeit oder des desolaten Zustandes ihrer Wohnung von der Außenwelt nahezu abgeschnitten leben. Ein mittleres Gewitter verwandelt so manches Treppenhaus in einen Wasserfall, Hinterhöfe innerhalb kürzester Zeit in sumpfige Jauchegruben. Monatelang versorgte Monique eine Rentnerin, die in einem abrißreifen Haus völlig vereinsamt hinter zugemauerten Fenstern vor sich hindämmerte.

Manche Hausbesitzer kümmern sich bereits seit Monaten, oft seit Jahren nicht mehr um den Zustand der Wohnungen, mitunter sind sie sogar unauffindbar geworden. Ebenso schwierig ist es herauszufinden, wer eigentlich Miete bezahlt. Falsche Besitzer, Unter- und Zwischenmieter kassieren nicht selten Mieten, Strom- und Wassergelder, die ihre wahren Empfänger nie erreichen. Wochenlange Sperrungen der Gas-, Strom- und Wasserzufuhr können alle Mieter eines Hauses gleichermaßen unerwartet treffen, da in vielen Altbauten der gesamte Verbrauch über ein und denselben Zähler abgerechnet wird. Weihnachten '87 fielen mit einem Schlag 40 Wohnparteien in der Rue des Gardes den drakonischen Maßnahmen zum Opfer. Innerhalb eines Jahres wurde ihnen das Wasser zum dritten Mal abgedreht.

Die dort ansässigen afrikanischen Familien scheinen sich mit derartigen Schikanen eher gelassen abzufinden. In ständiger Erwartung einer nächtlichen Zwangsräumung nehmen sie den täglichen Gang zur nächsten Wasserstelle kommentarlos in Kauf. Karawanen Wassereimer schleppender Frauen und Kinder gehören sommers wie winters zum Straßenbild der Goutte d'Or. Ungewißheit und

Wohnungsmangel

In den zahlreichen Apotheken rund um das Viertel herum versehen Apotheker - öfter als ihnen lieb ist - medizinische Dienste, denn viele Anlieger leben ohne jede Art von Kranken - oder Sozialversicherung. Obwohl eine Routineuntersuchung bei dem dreiköpfigen Ärztekollektiv im Nebenhaus nur 80 Francs kostet und Ärzte ganze Familien auf einen Krankenschein behandeln, scheuen viele Ausländer den Arztbesuch. Dagegen floriert der Markt afrikanischer Marabouts, die auf ihren an Metro-Ausgängen verteilten Visitenkarten nicht nur Heilung von körperlichen Leiden garantieren, sondern auch Hilfe bei Arbeitslosigkeit, Impotenz, Heimweh und allen Formen von Verzauberung versprechen.

Nach jeder Häuserräumung liegt die Zukunft der meistens nur provisorisch untergebrachten Familien im Ungewissen. Im Regelfall mietet die Stadt für einige Tage oder Wochen Hotelzimmer für die kinderrreichen afrikanischen Familien an und überläßt sie hiernach mehr oder weniger ihrem Schicksal. Selbst die letzten noch links regierten Pariser Vororte führen zunehmend sogenannte „Ausländerquoten“ ein: Aus dem einstigen „Roten Gürtel“ um die Hauptstadt ist mit den Jahren eine Gürtelrose geworden.

Die Situation in den französischen Ausländerwohnheimen ist ebenfalls alles andere als rosig. Die 150.000 Betten im ganzen Land sind mehrfach überbelegt. Seit Jahren wurde im Pariser Raum kein neues Heim hinzugebaut, statt dessen stiegen die Mieten - zwischen 800 und 1.600 Francs für ein Einzelzimmer - weiter an. Allein schon die Geschichte der Wohnheime sagt viel über die Ausländerpolitik des Gastlandes Frankreich aus: Auf möglichst billig erworbenen Grundstücken erbaut, das heißt, mitunter zwischen Autobahnen, Industrieanlagen oder Müllkippen, wurden die ersten Mammutwohnheime bis in die siebziger Jahre von ehemaligen Kolonialoffizieren und Legionären geführt, deren Rassismus eine Fortsetzung des verlorenen Krieges mit anderen Mitteln war.

Eine Ausnahme bilden heute die Wohnheime in Montreuil und in Epinettes. Dort befinden sich halbe Dörfer aus den Dürrezonen Malis und des Senegal. Dorfhierarchien, traditionelle und Gelegenheitsgewerbe haben sich in dem Maße erhalten, wie diese Gemeinschaften ungestört zusammenleben durften. Die meisten schicken regelmäßig Geld in ihre Heimatdörfer, das für den Aufbau der Infrastruktur verwendet wird. Doch gerade diese afrikanischen Mini-Dörfer gerieten in letzter Zeit zunehmend ins Schußfeld der öffentlichen Kritik. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den französischen Heimleitungen stehen vor allem die selbstverwalteten Großküchen der Afrikaner, in denen komplette Essen für nur sieben Francs, mitunter auch an bedürftige Verwandte von außerhalb, vergeben werden. Weil sich in den Wohnheimen auch nichtzahlende Gäste befanden, griff der Pariser Dachverband (AFRP) auch schon zu rabiateren Mitteln: Im August vergangenen Jahres riß ein nächtliches Überfallkommando elektrische Leitungen aus den Wänden, goß Wasserstellen mit Beton zu, verkettete Gasflaschen und besprühte die aus dem Schlaf gerissenen Zeugen mit Tränengas.

Um in Zukunft ähnliche Konflikte zu vermeiden, basieren die neugeplanten Ausländerheime auf kleineren und somit teureren Wohnheinheiten, die eine bessere Integration in die Umgebung ermöglichen sollen.

Widerspruch einer „Integrationspolitik“ - ob in Frankreich oder anderswo -, die nur Assimilierung ohne volle Gleichberechtigung vorsieht: Sie zerstört gerade diejenigen sozialen Strukturen ausländischer Mini-Dörfer, die ihren Mitgliedern die Rückkehr ins Heimatland erleichtern und bisher vorbereiten halfen.

In der Goutte d'Or, dem von der rechten Presse als kriminell und leprös verschrieenen Viertel, tummeln sich mehr Kinder auf der Straße als in jedem anderen Pariser Stadtteil. Aus den „poulbots“, den Kindergestalten des Pariser Zille, Francisque Poubot, von denen nur noch die verniedlichende Serienmalerei für Touristen zeugt, sind die Gastarbeiterkinder aus nahezu 50 Ländern geworden. Auf der Schulbank lernen sie die Strophe „Nos ancetres, les Gaulois“ (Unsere gallischen Vorfahren ...) auswendig aufsagen. Wann werden sie auch wie deren Nachfahren behandelt werden?