Unterschriften gegen neue Sowjetverfassung

Die Volksfronten in Lettland, Estland und Litauen machen gegen die geplanten Änderungen in der Verfassung der Sowjetunion mobil Millionen von Unterschriften gegen Beschränkung der Souveränität / Frühere Stalin-Verfassung gegen den Entwurf ein „Höhenflug der Demokratie“  ■  Von Ojars J.Rozitis

Der in die Sowjetrepublik Lettland entsandte Emissär aus dem Politbüro der KPdSU, Wadim Medwedew, reagierte deutlich verschnupft, als ihm jüngst in Riga gewahr wurde, was in den nächsten Tagen an Post auf den Obersten Sowjet der UdSSR zukommen wird. Als Verschärfung einer „ungesunden psychologischen Atmosphäre“ bezeichnete Medwedew eine Aktion, mit der die Volksfronten in Estland, Lettland und Litauen zum ersten Mal gemeinsam gegen ein Vorhaben der Moskauer Zentrale mobil machen.

Auf einer Sitzung am 8.November in Riga waren Vertreter aller drei baltischen Volksfronten übereingekommen, die vorgesehenen Änderungen in der Verfassung der UdSSR mit der Begründung rundweg abzulehnen, diese zielten nicht auf eine weitere Demokratisierung des Staates, sondern auf den Ausbau eines „pyramidal angelegten, zentralistischen Staates (...). Im Vergleich mit dem vorliegenden Entwurf (...) nimmt sich die einstige Stalin-Verfassung als Höhenflug der Demokratie aus“. Kurzum: Es handle sich bei den Änderungs-Vorschlägen um „eine Revision der neuen Politik der KPdSU, sogar eine offene Konterrevolution, einen wesentlichen Schritt zurück in die Stagnation“.

In einer gesonderten Erklärung der Volksfront Lettlands heißt es darüber hinaus, daß die vorgesehene Neufassung des sowjetischen Grundgesetzes für die kleineren Republiken eine wesentliche Einschränkung sowohl ihrer Möglichkeiten, an der Arbeit der höchsten Organe der UdSSR mitzuwirken, als auch ihrer souveränen Rechte auf eine selbständige Gestaltung ihres politischen, ökonomischen und kulturellen Lebens bedeuten würde. Deshalb sei diese Deformation der Ideen der 19.Parteikonferenz abzulehnen.

Als Gegenmaßnahme beschlossen die baltischen Volksfronten, mit einer Unterschriftensammlung zu verlangen, daß die im Obersten Sowjet der UdSSR für den 29.November anstehenden Beratungen über die Verfassungs-Änderungen ausgesetzt werden: In Estland lägen dafür schon 100.000 Unterschriften vor, Litauen hat sich als Ziel eine Million vorgenommen. In telefonischen Berichten heißt es neuerdings, daß diese Zahl inzwischen auch in Estland erreicht worden sei.

Desweiteren sollen die Abgeordneten des Obersten Sowjet aus den baltischen Republiken auf den Willen ihrer Wähler verpflichtet werden, den Änderungen nicht zuzustimmen. „Erinnern wir uns, daß die Wähler das Recht haben, ausreichend kurzfristig und im gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren Abgeordnete des Obersten Sowjet abzuberufen“.

Es folgt schließlich der Hinweis, die Protestbriefe als „Einschreiben“ und in doppelter Ausfertigung abzuschicken, einmal an den Obersten Sowjet der UdSSR, das andere Mal an den Vorstand der Volksfront (Padomju Jaunatne, 10.November 1988).

Mittlerweile hat der Oberste Sowjet Estlands auf einer Sondersitzung am 16.November nahezu einmütig eine Erklärung zur „Souveränität der Estnischen SSR“ verabschiedet. Diese sieht vor, daß Unionsgesetze und Änderungen der sowjetischen Verfassung nur dann in Estland Gültigkeit erlangen sollen, wenn sie auch vom Obersten Sowjet der Republik gebilligt worden sind.

In diesem Zusammenhang verdient die Nachricht Interesse, daß die Volksfront Lettlands die Wähler der Republik dazu aufgerufen hat, auch die Abgeordneten des Obersten Sowjet der Lettischen SSR aufzusuchen, um ihnen den Widerstand gegen die Änderungen und Ergänzungen in der Verfassung der UdSSR zu verdeutlichen: Diese seien „ihrem Gehalt nach reaktionär“, stünden „im Widerspruch mit den Resolutionen der 19.Parteikonferenz der KPdSU“ und entzögen „ihrem Wesen nach den Republiken und Völkern Souveränitäts- und Selbstbestimmungsrechte“ (Padomju Jaunatne, 11.November 1988). Der Oberste Sowjet Lettlands tagt am 22.November. Nach dem Präzedenzfall in der Nachbarrepublik darf man auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten gespannt sein.