Nachrüstung für die Nato der neunziger Jahre

Teilnehmer der Nordatlantischen Versammlung betonen Strategie der „flexiblen Antwort“ / Die neue Rüstungsrunde wird „Modernisierung“ genannt und soll die durch den Abbau der Mittelstreckenraketen verlorenen Optionen wiedergewinnen  ■  Aus Hamburg Kai Fabig

Aus Protest gegen die Vorfälle während der Abschlußkundgebung der Friedensdemonstration am Donnerstag verzichtete die grüne Bundestagsabgeordnete Angelika Beer am gestrigen Schlußtag der Nordatlantischen Versammlung (NAV) auf eine Begründung ihrer Änderungsanträge. Sie könne im Rathaus nicht Demokratie spielen, wenn draußen das Demonstrationsrecht beschnitten werde, argumentierte sie und mußte sich dafür von dem Christdemokraten Alfred Biehle als „Polit-Terroristin“ beschimpfen lassen.

Aber auch bei noch so beredter Begründung wären dem Versuch, aus einer Resolution der NAV ein friedenspolitisches Manifest zu machen, wohl genauso wenig Erfolg beschieden gewesen. Alle Anträge wurden niedergestimmt, selbst die Aufforderung, unverzüglich mit Verhandlungen über den Abbau von Atomwaffen zu beginnen. Statt dessen äußerten die 188 ParlamentarierInnen aus 16 Nato-Staaten ihr Mißtrauen gegenüber den Abrüstungsvorschlägen Gorbatschows und ihre Zustimmung zur Modernisierung von Nato-Waffensystemen.

Auch wenn die gestrige Abschlußresolution niemanden bindet, muß eine Bilanz der fünf Tage NAV mehr umfassen als nur die Spesenabrechnungen des „größten parlamentarischen Reiseunternehmens der Welt“, wie Spötter sie nennen. Denn in mehrfacher Hinsicht kommt dieser Hamburger Tagung eine größere Bedeutung zu als den Treffen in der Vergangenheit. Sie hat die westdeutsche Friedensbewegung aus ihrem durch den Erfolg des Mittelstreckenraketen-Abkommens verursachten Dornröschenschlaf wachgeküßt, indem sie die öffentliche Debatte über die zweite Nachrüstung auf die Tagesordnung gesetzt hat. Dies ist erst einmal erstaunlich, wurde doch bisher versucht, diese „Modernisierung“ genannte neue Rüstungsrunde klammheimlich über die Bühne zu bringen. Das Ergreifen der Initiative wird aber verständlich auf dem Hintergrund einer Entwicklung, die dazu in scheinbar krassem Widerspruch steht. „Der Nato laufen die Leute weg“, erklärte Alfred Mechtersheimer, Mitglied der grünen Bundestagsfraktion. In allen Ausschüssen war die wachsende Popularität Gorbatschows in den westlichen Ländern und das damit verbundene Nachlassen von Bedrohtheitsgefühlen Hauptthema. Was man denn Gorbatschows Abrüstungsvorschlägen entgegensetzen könne, lautete die schon fast flehende Frage des christdemokratischen NAV-Delegierten Alfred Biehle an Nato-Oberbefehlshaber John Galvin. „Mit diesem Feuerwerk können wir nicht konkurrieren“, befand für ihn der frischgebackene Generalsekretär Manfred Wörner. Deshalb geht es auch nicht darum, sich durch eigene Abrüstungsvorschläge als noch friedliebender darzustellen, sondern darum, die Glaubwürdigkeit des Gegners in Zweifel zu ziehen und so alte Bedrohtheitsgefühle wiederherzustellen. Dazu diente auf der NAV zum einen die altbekannte „Erbsenzählerei“, das heißt das rein quantitative Gegenüberstellen von Panzern und Truppenstärken, bei der dann ein erdrückendes Übergewicht des Ostens herauskommt. Zum anderen wird die im Zuge von Glasnost betriebene kritische Aufarbeitung der sowjetischen Militärpolitik dazu benutzt, die friedenspolitische Unzuverlässigkeit der UdSSR zu beweisen.

Zweifellos wäre es einfacher, Gorbatschow mit seinen weitreichenden Abrüstungsvorschlägen einfach beim Wort zu nehmen, statt auf umständliche Art und Weise die öffentliche Meinung wieder hinter sich bringen zu wollen. Warum dies nicht geschieht, auch das wurde auf der NAV deutlich. „Strukturelle Abrüstungsunfähigkeit“ nennen es die Grünen. Ob strukturell oder temporär, zur Zeit verfügt die Nato nicht über eine Strategie, die mit qualitativen Einschnitten - insbesondere bei den Atomwaffen - in Einklang zu bringen wäre. Durchgängig wurde auf der NAV das Festhalten an der Strategie der „flexiblen Antwort“ gefordert. Dadurch, daß sie den potentiellen Aggressor darüber im Ungewissen lasse, wie die Nato antworten werde, sei sie für die Abschreckung unerläßlich, heißt es in dem NAV-Bericht Die Nato in den neunziger Jahren. Und mit der zweiten Nachrüstung sollen eben jene durch das Mittelstreckenraketen-Abkommen verlorengegangenen Optionen zurückgewonnen werden. Auch das ökonomische Gewicht, das die Rüstungsindustrie in Europa mittlerweile erreicht hat, spielt insbesondere auf dem Hintergrund des durch die Fusion von Daimler-Benz und MBB gerade entstehenden größten Rüstungskonzerns Europas eine wichtige Rolle bei Abrüstungsunwilligkeit im konventionellen Bereich.

Europa bildete dann auch in Form des Aufbaus eines „europäischen Nato-Pfeilers“ den zweiten Themenschwerpunkt der NAV. Spanien und Portugal wurden als neue Mitglieder in die Westeuropäische Union aufgenommen, deren Wiederbelebung diesen Pfeiler entstehen lassen soll. Entlastung der USA bei Weiterbestehen ihrer Hegemonie oder Entstehen einer neuen Weltordnungsmacht unter bundesdeutscher Führung ist dabei die insbesondere für die westdeutsche Friedensbewegung interessante Frage. Die 10.000 Menschen, die am Donnerstag abend mit der Forderung „Abrüstung statt Nato-Aufrüstung“ in Hamburg demonstrierten, dürften auf diesem Hintergrund nur ein Anfang gewesen sein. Der NAV kommt das Verdienst zu, sie mobilisiert zu haben.