Offene Tür

■ Die baltischen Republiken in Bewegung

Mit einem Münchhausentrick haben die Delegierten des estnischen Obersten Sowjet sich am eigenen Zopf aus der sowjetischen Verfassung gezogen: sie strichen kurzerhand den Passus, demzufolge Bestimmungen ihres eigenen Grundgesetzes automatisch ungültig werden, wenn sie der UdSSR-Verfassung widersprechen. Durch die damit geöffnete Tür schoben sie dann gleich noch eine ganze Reihe von Verfassungsresolutionen nach.

Die Hast des Vorgehens ist erklärlich: man möchte schon vor dem Plenum des Obersten Sowjet am 29.November in Moskau vollendete Tatsachen schaffen. Denn Gorbatschows Konstitutionsvorlage verspricht eine wesentliche Stärkung der Zentralmacht. Von den 7,7 Millionen Einwohnern aller drei baltischen Staaten haben sich daher in Petitionen 2,6 Millionen gegen das Projekt ausgesprochen. Das Austrittsrecht der Einzelrepubliken aus der UdSSR - auch wenn es bislang nur auf dem Papier existierte - ist seit der Staatsgründung 1924 eine Grundsäule aller Sowjetverfassungen.

Diesem Verfassungsanspruch kam in dem vorsichtig ausbalancierten Konstrukt des Sowjetstaates eine psychologische Wirkung zu: Die Angehörigen der verschiedenen Sowjetnationalitäten fühlten sich durchaus nicht als Bürger eines föderativen Gesamtstaates, sondern als Angehörige eines Bundes nominell selbständiger Staaten, eben der „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“. Eine Änderung der Gesamtverfassung, die die Autonomierechte der Einzelrepubliken noch weiter einschränkt, könnte diese Bezeichnung ad absurdum führen. Gorbatschow wird hier nicht nur auf den Widerstand von sogenannten „Nationalisten“ stoßen, sondern auch auf die Bedenken so manches alten Leninisten.

Barbara Kerneck