„Anti-AKW-müde? Im Gegenteil!“

■ Am Sonntag tagten im Laden der Bremer Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen (BBA) 20 AKW-GegnerInnen der norddeutschen Region / Trend: Weniger AktivistInnen, aber viel Power

Eine „Großdemo gegen Atomkraftwerke“ war angemeldet worden - ausgerechnet in einem eher stillen norddeutschen Dörfchen. Also fuhren 10 Polizeibusse auf,

dazu Wasserwerfer und Polizeibeamte in zivil. Und dann marschierten die beiden Veranstalter mit einem Transparent an der ganzen Polizei-Pracht vorbei

und sagten scheinheilig zur Einsatzleitung: „Wir sind auch ganz verblüfft! Keiner ist gekommen!“ Auch sowas gehört weitererzählt.

Immerhin rund 20 Anti-AKW-AktivistInnen aus Hameln, Nordenham, Oldenburg, der Wesermarsch, Hamburg, Osnabrück und Bremen verbrachten ihren Sonntag nicht mit Friedhofsgängen oder Kakaotrinken, sondern saßen gestern im einst legendären BBA-Laden und bewältigten konzentriert, aber nicht unvergnügt eine pralle Tagesordnung.

Thema: „Warnnetz in Bürgerhand“. Schlechte Noten bekam das „Projekt Warnzentrale e. V.“, das die ganze BRD mit vernetzten 'Genitron'-Frühwarn-Meßstellen für Radioaktivität „in Bürgerhand“ überziehen und im Katastrophenfall Alarm schlagen will. Auch der BUND hat schon angebissen und trägt sich mit dem Gedanken, dabei mitzustricken. Der Bremer Physiker Rolf Goedecke referierte die Kernpunkte seines 12-Seiten-Papiers, daß die - von den Herstellern! gegenüber Bürgerinitiativen heftig propagierte

-Technik unbrauchbar (weil meßtechnisch viel zu grob) und die Finanzierung fragwürdig sei, und perspektivisch alle Atom-GegnerInnen als Meßdaten-VerwalterInnen lahmlege.

Ganz anders ein lokales Experiment der ehemaligen BI und heutigen VAU Hameln, die rund um das AKW Grohnde fünf insge

samt 200.000 Mark teure Meßstellen einrichtete und mit Wetterstation und EDV-Rechner koppelte. Michael Thürnau aus Hameln: „Die Grohnder AKW-Herren können sich nicht mehr unbeobachtet fühlen!“

Thema: „Mutation“. In der Edewechter Region sind seit Tschernobyl ganze Populationen von weißen Ohrenkneifern aufgetaucht. Einige Kilometer neben dem Stader Schrottraktor, in der Haupt-Windrichtung, gibt es neuerdings Doppelblüten bei Klee und Löwenzahn und Pflanzenstengel, die nicht mehr rund oder eckig, sondern breit und geringelt wachsen, berichteten Elke und Irmhild aus Hamburg. Ein Wesermarsch-Delegierter berichtete von zunehmend mißgebildeten Kälbern und radioaktiver Milch von Moorböden. Die AKW-GegnerInnen zeigten sich auch ihren eigenen ersten Vermutungen gegenüber als superkritisch: Bevor das alles dem Fallout zugeschrieben würde, müsse man reihenweise andere Ursachen ausschließen können.

Thema: „Sterblichkeit“. Der unermüdliche Physikprofessor und Aktivist der ersten Stunde, Jens Scheer, stellte „allererste Arbeitsergebnisse“ aus einer Untersuchung der Bremer Doktoranden Schmidt/Ziggel vor, die Statistiken zur Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl untersucht haben. Nach dem Mai 86

macht die Sterblichkeits-Kurve deutliche Sprünge nach oben, im Süden der BRD um ein Drittel, in der Mitte um 10 Prozent, im Norden kaum. Ähnliches gilt für Allergie-Krankheiten.

„Es ist ruhig geworden“, faßte Martin vom Bremer BBA-Laden den augenblicklichen Stand der Bewegung zusammen. Von Resignation war aber gestern nichts zu spüren, eher von organisierter und konzentrierter Sachlichkeit. Zwei Hamburgerinnen berichteten von ganz neuen anti-atombewegten Kreisen, älteren Frauen etwa, die sich für 50 Mark Aktien der Hamburger Elektrizitätswerke und damit Rederecht auf Hauptversammlungen kaufen. Und Jens Scheer fand historisch -optimistisch: „Müde? Im Gegenteil! Was war 1973 der Atom -Gedanke noch positiv verankert! Daß heute die meisten Leute in der BRD - ganz anders als anderswo - Atomkraft ablehnen, das ist doch der große Erfolg unsererer Bewegung!“

Wie es weitergehen soll? Mitmischen beim Atom-Ausstieg, den die Parteien für sich „besetzt“ zu haben scheinen; ran an die Gewerkschaften, z.B. der Eisenbahn, die bei Atomtransporten eine gewaltige Rolle spielen könnten, ran an die laufenden Anlagen, statt auf die Verhinderung neuer fixiert zu sein, ran an die Atom-Transporte aller Art. Susanne Paa