WARUM SO WEIHEVOLL?

■ „Work in progress„-Berlin mit Cage, Ablinger und Stockhausen

John Cages Angaben zu seinem Stück „Variation II“ (von 1961) sind spärlich, so reduziert, daß sie kaum als Improvisationsangabe bezeichnet werden können. Elf durchsichtige Folien, fünf davon versehen mit jeweils einem Punkt, sechs mit einer Geraden, bilden das Material. Eine Lösung, die durch Übereinanderlegen der Folien entsteht, ist - freilich noch mit Klängen zu füllende - graphische Partitur für die Musiker. Daß Cages Interesse ein in mehrfacher Hinsicht synäthetisches ist, wird von der neuformierten Gruppe „Work in progress“ bedacht. Sie nähern sich einer szenischen Darstellung, beziehen das Rund des Kammermusiksaals als visuell erfahrbaren Raum ein. Die Musiker durchwandern, ihre Instrumente bedeutungsschwanger mit sich führend, die Räumlichkeiten des Saals.

Während der 50minütigen, präzis gestalteten Aufführung fällt einem ein, Musik ist hier längst nicht so ausschließlich auf sich bezogen, wie sie es so oft zu sein scheint. Speziell im Konzertbetrieb; der Zuhörer gibt sich versunken in die Musik und sich, jedes Husten seines Nachbarn mit bösen Blicken quittierend, konzentriert auf das Podium und seine Akteure. Mein Sesselquietschen, das Magenknurren meines Nachbarn, das hin und wieder zu vernehmende Kichern, all dies und wesentlich mehr tun das ihrige, gehören zur Komposition, zur 'hohen Kunst‘, die eben so weihevoll bei Cage nicht zu begreifen ist.

Es bleibt das Gefühl einer Diskrepanz zwischen äußerlich gewahrter Form des Konzertes als Institution und dem Nichteinlösen durch die Aufführung der Komposition Cages.

Welch ein Gedanke? Zwölf Spieluhren auf dem Podium des Kammermusiksaales; Stockhausens „Tierkreis“ (von 1975-76) in erster Fassung - 'original‘, ganz ungeschminkt, naiv. Leider nur eine Vorstellung; gerade jener Naivität entbehrte die aufgeführte Version für Kammerensemble und Mezzosopran. Ein geglätteter 'Liederzyklus‘ formiert sich vor unseren Ohren, brav, die Texte Stockhausens musikalisch symbolisierend. Im Sinne der späten Achtziger und ihrer Horoskopgläubigkeit sicherlich eine interessante Quelle, musikalische Deutungen zum Thema zu gewinnen...

Es fragt sich, ob es im Umgang mit zeitgenössischer Musik nicht nötig wäre, stärker mit Konventionen zu brechen. Bei Cage und Stockhausen bezogen auf die Aufführung, bei Peter Ablingers Uraufführung („Ensemble“, von 1987) bezogen auf die Substanz dessen, was zu Gehör gebracht wurde. Haften bleibt der Ver such, verschiedenste instrumentale Techniken auszureizen, die sich die Moderne auf jedem Instrument zu eigen machte. Dies ist so aufregend nicht, zumal in einer potpourriartigen Zusammenstellung, in der ein während der Aufführung zu präparierendes Klavier nicht fehlen durfte.

Das Augenzwinkern Cages hat uns hier verlassen - belassen hingegen ist ein seltsam diffuser Eindruck der 'Avantgarde‘ Ablingers und seiner Väter bzw. Großväter Stockhausen und Cage.

Anno Mungen