GESCHICHTENERZÄHLER

■ „Angst“ live im K.O.B.

Mit „Angst“ aus Kalifornien spielte wieder eine SST-Band in der Stadt, vom amerikanischen Independent-Label, das seit einiger Zeit großartige Bands um sich sammelt, die mit all ihrer Unterschiedlichkeit das weite Gebiet von Hardcore -Punk, Blues- und Folk-Rock bis zu Avantgarde- und Jazz -Klängen beackern, um neue Musik verschiedenster Art zu züchten. Mit ungeahnten Möglichkeiten werden hier unglaublich wundervolle Ergebnisse produziert. SST-Bands sind immer besonders und überraschend, und obwohl der Katalog des Plattenlabels immer dicker wird, wird man nie satt davon. Man hat auch nicht zu befürchten, daß dieses Label ihre Bands verheizt, und dies ist so eindeutig, weil der Grund der Entstehung dieses Phänomens kein anderer war als die logische Konzequenz einer ablehnenden Haltung anderer Plattenfirmen gegenüber der Musik von „Black Flag“, mit denen alles anfing, und die deshalb ihr eigenes Label gründeten. Die Strategie von SST zielt somit auch nicht auf ein kapitalschlagendes Verkaufen ihrer Veröffentlichungen.

Das dichtgedrängte Publikum hat dir keinen Freiraum gelassen, trotzdem bist du später irgendwie mittendrin, und es ist so voll, daß du gerade deine zwei Füße nebeneinander auf den Boden bringst. Keine Bierflasche kann hier auf den Boden fallen. Jon E.Risk, der Sänger und Gitarrist der Band, kommt sichtlich angetrunken auf die Bühne. Die anderthalb Whiskeyflaschen, die er zusammen mit seinem Instrument auf die Bühne trägt, werden sich im Laufe des Abends als gleichwertige Mitbringsel erweisen und wie ein brauner Saftfaden durch das Programm ziehen. Was ist nun das Ergreifende an der Musik von „Angst“?

Freundschaft.

Eine Freundschaft, die sich nicht nur in den Liedern, sondern auch in der Verbundenheit der Band ausdrückt. Jon E.Risk und Joseph Pope (Baß) sind sowas wie Brüder, und ihre zwei Musiker-Seelen haben sie zu einer zusammengeschmissen, damit diese Bruderschaft auf Ewigkeit halten möge (wie die der Everly-Brothers) und sie sie gemeinsam Songs schreiben läßt, wie sie eigentlich nur so begnadete Geschichtenerzähler und Einzelwesen wie Johnny Cash, Bob Dylan oder Neil Young zu schreiben verstehen. Es ist wie das Geschichtenerzählen unter Freunden, und die Musiker stellen dazu einen ihrer Füße auf die Monitorbox, wie Cowboys sich auf staubige Stierschädel stützen. Die Musik dazu wird kräftig durchgeschüttelt. Die Zutaten sind nur vom Besten, etwas Country, etwas Blues, einen Spritzer „Hüsker Dü“, virtuoses Gitarrenspiel, Speed und ein ordentlicher Schuß des richtig großen Songwritings. (Ähnlich wie die „Meat Puppets“, nur ohne deren Schnickschnack, der ja auch schön anzuhören ist, nur in eine andere, vielleicht intellektuellere Richtung geht.)

Der emotionale Gehalt von Melodie wird möglichst minimalisiert, um sie später mit einer größtmöglichen Manie aufzuladen. Du begegnest der Musik wie einem sich niemals leerenden Faß, was dir einen scharfen Geschmack im Rachen hinterläßt, worauf du deinen inneren Hals sofort mit einem neuen Drink benetzen mußt. Wie wichtig sind Drinks eigentlich? Noch einen Schluck, um diese Frage zu vergessen. Noch eine Geschichte.

Jon E.Risk erzählt aber nicht nur Geschichten (in englisch und deutsch übrigens), er erzählt auch, daß er heute Geburtstag und einen Arsch wie ein Affe hat und er außerdem ein Riesenarschloch ist, wobei man ihm letzteres bestimmt nicht abnimmt, schließlich bezahlt er das Anzünden einer Zigarette mit einem Schluck Bier und spendiert nach der Show einen ganzen Kasten. Diese naturbedingte Höflichkeit, Freundlichkeit und Bescheidenheit braucht es wohl auch, um immer wieder jene Wörter zu finden, die aus einem einfachen Song ein besonders starkes Stück Musik machen: „Somewhere deep inside/ I keep on searching for this world of indifference/ The one that I call yours not mine/ But everytime you answer you seem so certain/ I just walk away an say 'That's right‘.“

In den Schwaden von Zigarettenqualm glaubst du ein Gesicht zu erkennen, und du bist es selbst, der dich breit anlächelt, während die Musik in deine Ohren dröhnt und in die Herzkammern zu fluten beginnt. Das ist es, was dich glücklich macht, dieses Teilhaben an der offenkundigen Herrlichkeit der Musik, die keinen Raum für andere Dinge läßt, vor allem keinen Raum für andere Menschen. Trotzdem oder gerade deshalb aber bist du an diesem Abend in einem Zustand des Nicht-Selbst-Seins und wirst eins mit deiner Umgebung, den Menschen im K.O.B., das prall gefüllt ist. So sind wir alle in der gleichen Lage: herzkammervoll.

Volker Lüke