Jenninger, der gute Deutsche

■ Erich Kuby über den schuld- und wehrlosen, den guten und blinden Deutschen

Das hätte sich Simon Wiesenthal auch nicht träumen lassen, daß er einmal im hohen Alter am Sturz eines westdeutschen Bundestagspräsidenten mitwirken würde; wenn auch nicht unmittelbar und schon gar nicht gewolltermaßen, über eine Relaisstation des Herrn Bundeskanzler. Ob dieser, auf seiner Reise nach Amerika, wo er Wiesenthal traf, das rituelle Käppchen orthodoxer Juden mitgenommen hatte, um derart maskiert, wie wir ihn kürzlich erlebten, auch dort aufzutreten, mit diesem Flammenzeichen des schlechten deutschen Gewissens auf dem Kopf, wissen wir nicht unmöglich ist es nicht. Hat er doch gewiß inzwischen begriffen, daß die Gnade der späten Geburt eine fatale Redensart ist und weiter gar nichts.

Aufgebrochen, um auf einer weiteren Station Bitburg vergessen zu machen, war es ganz ausgeschlossen, die Rede des Bundestagspräsidenten Jenninger ungesühnt hinter sich zurückzulassen. So wurde dieser zum Rapport befohlen, knallte die Hacken zusammen, und husch husch, vollzog er den „Rücktritt in Würde“ und muß sich nun „mit der Existenz eines amtslosen einfachen Abgeordneten“ abfinden. (FAZ vom 12.11.) Fürwahr ein hartes Schicksal.

Aber was hat ihn denn nun eigentlich zu Fall gebracht? Die politisch harmloseste Erklärung wäre: Dummheit! Womit nicht gemeint ist, er wäre nicht fähig im Kopf 13 mal 24 ausrechnen oder er könne seine Steuererklärungen nicht ausfüllen. Daß hier mangels eines besseren Ausdruckes Dummheit genannt wird, ist die Unfähigkeit, das Unwägbare zu erkennen und zu deuten. Die Rede hat bewiesen, daß hier ein Mangel vorliegt, von dem nicht einmal sicher ist, ob Jenninger damit geboren oder ob er das Ergebnis längerer Zugehörigkeit zum Bonner politischen Apparat ist, wofür manches spricht, wenn man sich die Szenerie im Ganzen ansieht.

Damit wäre jedoch nur eine Teilerklärung geliefert und nicht der Gesichtspunkt berührt, der nicht personalistisch eingegrenzt werden kann. Im formalen Sinne, festgemacht an ihrem Handeln in der operativen Politik, findet man im derzeitigen politischen Establishment nur wenige Funktionäre, von denen man sagen dürfte, sie seien bewußterweise Neonazis. Zu ihnen gehört nicht der Urheber des Eklats, vom italienischen Fernsehen „ein Erdbeben“ genannt.

Demokraten wie Jenninger sind schlicht nichts anderes als Deutsche, sie gehören zum überwiegenden Teil zur jener Generation, die den Nationalsozialismus in einem Alter erlebt hat, in dem sie nicht aktiv hatten mitmachen können. Da es nahezu in einem halben Jahrhundert nicht zu einer Klärung des Sachverhaltes gekommen ist, daß deutsch sein und nationalsozialistisch sein identisch war, wurde auch nicht begriffen, das jene, die nicht mitspielten und „das andere Deutschland“ darstellten, sich in Wahrheit von der Mehrheit des eigenen Volkes abgetrennt hatten. Ja, abtrennen mußten.

Dazu bestünde kein Anlaß mehr? Das ist eben der Grundirrtum. Jeder, der begriffen hätte, daß der Nationalsozialismus die bisher vollkommenste Selbstfindung der deutschen Mehrheit gewesen ist, stünde auch heute und hier in innerlicher Distanz zu ihm, er spräche eine andere Sprache und zwar nicht nur, wenn er über den Nationalsozialismus doziert. Ihm müssen die Erschütterungen anzumerken sein, und er würde mit äußerster Vorsicht an das Tabu „NS“ rühren. Davon wußte Jenninger nichts.

Selbstverständlich, ich wiederhole es, ist Jenninger kein Neo-Nazi. Er ist ein Deutscher, der intellektuell den Nationalsozialismus verurteilt, wie es sich gehört, aber keine Ahnung hat, in welcher Tiefe des Seins, und keineswegs nur durch die Geschichte, er damit verbunden ist, schuldlos als Person. Schuldlos - und wehrlos! Käme der Teufel durch eine andere Tür herein, er würde hingenommen und angenommen wie Hitler. Das braucht nicht im Konjunktiv gesagt zu werden: Er kommt durch viele Türen herein. In eine Welt, die so gut wie widerstandslos ihrer Zerstörung ausgeliefert wird, und wieder sind es nur weithin machtlose Minderheiten, die sich dagegenstellen.

Daß sich das „Faszinosum“ Hitler vom „Faszinosum“ Atomenergie und Gentechnik im Prinzip nicht unterscheidet, das zu erkennen, war Jenninger nicht in der Lage. Er ist der Typ des guten, des demokratischen, des blinden Deutschen.