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■ Der dritte Band von E.J. Hobsbawms monumentaler Geschichte des britischen Empire „The Age of Empire: 1875-1914“ liegt jetzt auf Englisch vor / Der britische Historiker James Joll meldet kritische Vorbehalte an

James Joll

Im Mai des Jahres 1898 hielt der britische Premier Lord Salisbury anläßlich des jährlichen Kongresses der konservativen Primrose League eine überzeugende, düstere Rede. Er sprach von einer Trennung der Nationen dieser Erde in die, die leben, und in andere, die sterben.

„Auf der einen Seite gibt es bedeutende Länder mit enormer Macht, deren Einfluß, Wohlstand und Herrschaftsanspruch zunehmen und deren innere Organisation Jahr für Jahr vollkommener wird.“

In den sterbenden Nationen andererseits „verbreiten sich Desorganisation und Verfall ebenso schnell, wie sich Straffung und Machtausweitung in den lebenden konzentrieren“.

Er folgerte daraus:

„Aus verschiedenen Gründen - aus politischen Notwendigkeiten oder unter dem Vorwand der Menschenliebe werden die lebenden Nationen beharrlich auf das Gebiet der sterbenden übergreifen; es wird sich rasch zeigen, daß unter den zivilisierten Mächten die Saat für Konflikte gestreut ist.“

Salisbury dachte hier besonders an das chinesische und osmanische Reich. Tatsächlich arbeiteten die europäischen Großmächte bereits an Plänen zur Aufteilung dieser verfallenen Strukturen. Doch wesentlich interessanter war Afrika für Staaten, die ihre Stärke, wie man sie von lebenden Nationen erwartete, bezeugen wollten. Afrika, der noch nicht erschlossene Kontinent, von dem man generell glaubte, daß er Imperialisten mit Rohstoffen, neuen Investitionsgebieten und Märkten reich entlohnen würde. Afrika, das nur auf die Wohltaten derer zu warten schien, die von ihrer „Mission“, einen Beitrag zum Wohlstand der entwickelten Welt zu leisten, überzeugt waren.

Gegenstand des neuesten Bandes der Trilogie Eric Hobsbawms über das 19. Jahrhundert - eines der bedeutendsten Werke der Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte - ist die Zeitspanne von 1875 bis 1914, in der sich das europäische Herrschaftsgebiet um 80 Prozent erweiterte. Es war eine Zeit, in der Europa mehr als je zuvor Mittelpunkt der Welt war und in ihr unauslöschliche Spuren hinterließ. Abseits der Geschichte

Eben diese Dominanz rechtfertigt Professor Hobsbawms Konzentration auf Europa und die Teile der Welt, die dem europäischen Muster folgten. Rivalität unter den Kolonialmächten führte zu einer neuen Landkarte von Afrika, deren Grenzen jedoch nach verwaltungstechnischen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen ausgerichtet wurden. Diese Einteilungen wurden später, Mitte des 20. Jahrhunderts, zu den Staatsgrenzen der unabhängigen Staaten, auch wenn sie nichts mit den historischen oder ethnischen Gegebenheiten vorkolonialer Zeiten zu tun hatten. Noch war das europäische Gedankengut, das die nationalistischen Leitfiguren der Unabhängigkeitsbewegung anregte, nur einer kleinen, begrenzten Elite zugänglich; die einheimische Bevölkerung der meisten Kolonien war eben erst ansatzweise mit europäischen Technologien in Berührung gekommen, einmal abgesehen von Techniken, die die Erhaltung der Kolonialmächte militärisch sicherten.

„Die große Masse der Eingeborenen“, schreibt Hobsbawm, „veränderte, wenn sie es vermeiden konnte, ihre Lebensweise kaum.“ Man gewinnt manchmal den Eindruck, daß für Professor Hobsbawm die Sprachlosen keine Geschichte haben, zumindest keine, die für seine Untersuchungen relevant ist. So wie er auch über Frauen der europäischen Landbevölkerung schreibt:

„Sie befanden sich nicht außerhalb historischer Prozesse, doch sie standen abseits der Geschichte der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts“, denn ihre Lebensweise hatte sich seit Jahrhunderten nicht verändert. Oder an anderer Stelle:

„Soweit man in dieser Zeit von der Konstituierung einer bewußten Arbeiterklasse, die in ihrer Bewegung und in ihrer Partei Ausdruck fand, sprechen kann, wurden die vorindustriellen Massen von diesem Bewußtsein geprägt. Doch insofern dies nicht geschah, blieb die Plebs von der Geschichte ausgeschlossen, denn sie hatte nicht die Geschichte gemacht; sie war ihr Opfer.“

Dieser Zustand sollte nicht lange anhalten: Die Kräfte für einen Wandel waren bereits vorhanden, und immer mehr Menschen fühlten sich dazu bestimmt, nicht mehr außerhalb der Geschichte zu stehen. Die Einführung der Schulpflicht in Europa (mit Hobsbawms Worten „die Grundschulära“), das zumindest in der Mittelschicht wachsende neue Bewußtsein für Frauenrechte, sinkende Geburtsraten, all dies gab Anlaß zu der Hoffnung, daß etwas getan werden könnte, damit es die Kinder besser haben würden als ihre Eltern. Solche Chancen wurden durch eine neue Mobilität ermöglicht, die Menschen in die Lage versetzte, in wachsende Städte zu ziehen oder - in einem nie zuvor möglichen Ausmaß - in einer neuen Welt ihr Glück zu versuchen. Möglichkeiten, die jedem zur Verfügung standen, so daß also die, denen sie dennoch verschlossen blieben, auf ihre Chancen pochten; sie wurden sich ihrer Entbehrungen bewußt. Ein proletarischer Tod

Die bedeutendste Form, in der dies seinen Ausdruck fand und die Herrschenden vornehmlich beunruhigte, war das Aufkommen einer neuen, organisierten Arbeiterbewegung. Hobsbawm zeigt in dem Kapitel Arbeiter der Welt, daß die Revolution nicht länger die Perspektive westlicher Länder mit fortgeschrittener Industrialisierung war, so sehr sie auch von den Machthabern gefürchtet wurde. Der Kapitalismus schien stabiler als je zuvor und war weit davon entfernt, an seinen eigenen Widersprüchen zu scheitern. Marx hatte gelehrt, daß das Proletariat sich nicht länger außerhalb historischer Prozesse befinde, sondern dazu bestimmt sei, eine siegreiche historische Rolle einzunehmen. Für die meisten sozialistischen Parteien war der Marxismus jedoch keine Doktrin mehr, die eine unmittelbare, gewalttätige Revolution bedingte.

Hobsbawm bezeichnet es als charakteristisch, daß selbst in Deutschland, dessen sozialdemokratische Partei, die aus eingeschworenen Marxisten bestand, die als bedeutendste sozialistische Partei der Welt galt, „das Kommunistische Manifest ... lediglich in Auflagen von 2.000 bis 3.000 erschien. Das wichtigste ideologische Werk in Arbeiterbibliotheken war Darwin gegen Moses, ein Titel, der für sich selbst spricht.“

Es waren also nicht die industrialisierten Länder, für die die Revolution eine praktische Möglichkeit darstellte, sondern jene, die „einen halbkreisförmigen Gürtel von Armut und Unruhe bildeten, ... (welcher) sich über Spanien, durch weite Teile Italiens, über die Balkaninsel bis ins russische Reich erstreckte“.

Hier, so Hobsbawm, behielt der Marxismus seine ursprüngliche explosive Bedeutung, und „von hier kehrte er in den Westen zurück, um dann in den Osten als Ideologie des sozialen Umsturzes zu expandieren“.

Die Bedrohung der europäischen Ordnung kam aus Ländern am Rande oder außerhalb ihres Machtbereiches. Hobsbawm stellt Überlegungen darüber an, wie diese Revolution aussehen könnte. In dem Kapitel Zur Revolution behandelt er das, was in China, dem osmanischen Reich, Persien und Mexiko geschah.

Wenn allerdings die meisten Sozialisten sich für den Moment damit begnügten, an unmittelbaren Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems zu arbeiten und eigene soziale und kulturelle Aktivitäten zu organisieren (einschließlich solcher Körperschaften wie der „Österreichische Begräbnisverein“, dessen Motto lautet: „Ein proletarisches Leben, ein proletarischer Tod und Verbrennung im Geiste des kulturellen Fortschritts“), gleichgültig, wie überzeugt sie von der Notwendigkeit sein mochten, daß das kapitalistische System beseitigt und durch eine neue, kollektivistische Wirtschaft ersetzt werden müsse, warum waren die Herrschenden dann so besessen von der sozialistischen Bedrohung? Warum war die Angst vor der Revolution so groß, daß sie viele Regierungen zu politischen Maßnahmen trieb? Und das besonders in Deutschland, wo man die Förderung eines neuen, forschen Nationalismus für ein geeignetes Mittel hielt, die Gegensätze zwischen Arm und Reich zu verdecken und eine vereinte Nation zu schaffen. Stimmungsbarometer

In der Zeit vor 1870 wurde das Bürgertum von dem Trauma verfolgt, sein Geld zu verlieren. Dann, in den Jahrzehnten bis 1914, ging die Furcht tiefer. „In diesen Jahren hing der Geruch von Gewalt über den Ritz Hotels und den ländlichen Villen.“ Rührte diese Angst aus militanten, gewerkschaftlich organisierten Streiks oder aus anarchistischen Attentaten auf königliche Personen? In den meisten Fällen sei es fraglos richtig, so behauptet Hobsbawm, daß die herrschenden Klassen „sich um die Zukunft Sorgen machten, sich aber vor der Gegenwart nicht wirklich ängstigten“. Aber die Sorgen blieben dieselben.

Eines der zentralen Themen des Buches ist der Weg, den „die Welt des bürgerlichen Liberalismus“ beschritt und der sie „zum Opfer der in ihrer eigenen Entwicklung angelegten Widersprüche machte“. Hobsbawm zählt eine Reihe von Veränderungen in der Weltwirtschaft auf, die die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft grundlegend veränderten. Das Netz der zusammenspielenden ökonomischen Interessen war geographisch größer ausgelegt als je zuvor: Der Radius wirtschaftlicher Unternehmen erweiterte sich, und somit vertieften sich Diskrepanzen zwischen dem „Big Business“ und den Kleinunternehmern, zwischen den Großindustriellen und ihren schwachen Konkurrenten. Technologische Veränderungen schufen vollkommen neue Voraussetzungen für die wirtschafliche Produktion und für das Alltagsleben in einer Welt, in der der Markt stetig wuchs. Darüber hinaus spielte der Staat eine bedeutend größere Rolle in Wirtschaft und Finanzwesen als es 50 Jahre zuvor vorstellbar gewesen wäre. So trug er zu der Herausbildung einer neuen Schicht von Bürokraten, Verwaltern und Technikern bei.

Max Weber, der auf die Bedeutung der Bürokratie hingewiesen hat, wird sich vielleicht als ein treffsicherer Prophet als Karl Marx erweisen.

Die europäische und die amerikanische Gesellschaft veränderten sich gerade dann grundlegend, wenn Regierungen verstärkt ihre Verpflichtung auf liberale und demokratische Grundsätze bekräftigten oder wenn sie, wenn sie es nicht von selbst taten, dazu gezwungen wurden. Sogar extrem autokratische Staaten scheinen sich in eine liberale Richtung zu bewegen, wie es das Parlament im zaristischen Rußland, das allgemeine Wahlrecht im österreichischen Teil der Habsburger Monarchie und viele andere Beispiele zeigen. Doch Eric Hobsbawm fragt, „ob nicht die Stabilität dieser Verkuppelung von politischer Demokratie mit dem blühenden Kapitalismus die Illusion einer abdankenden Epoche war“?

Tatsächlich gibt es um die Jahrhundertwende einflußreiche Stimmen, die ähnliche Fragen aufwerfen. Nietzsche und Barres verdrängten als intellektuelle Sprachrohre einer sich wandelnden Weltanschauung Spencer und Taine: Der positivistische Glaube an die Wissenschaft machte einem Kult des Irrationalen Platz. Und in dieser Krise der bürgerlichen Gesellschaft wird die Geschichte der schönen Künste zum Stimmungsbarometer. Revolution um 1900

Wirklich? Zweifellos, und darauf ist wiederholt hingewiesen worden, erlebte die europäische Malerei im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die größte Revolution seit der Renaissance. In der Musik lösten sich die Sicherheiten der alten Harmonien auf, und Komponisten suchten nach neuen Wegen aus der Tradition, deren Möglichkeiten sich für einige von ihnen erschöpft hatten. Es ist allerdings äußerst unklar, wie man dies zu den Phänomenen aufschießender Industriekartelle und sozialistischer Parteien in Beziehung setzen soll. Doch Hobsbawm führt in einem anderen, bewundernswert eingängigen und klaren Kapitel vor, daß die Gewißheiten der Naturwissenschaften ebenso untergraben wurden und sich eine neue Sichtweise auf das Universum entwickelte.

Wir sind unvermeidlich versucht, alle diese neuen Ideen und Vorstellungenm miteinander zu verbinden; es ist allerdings ziemlich schwierig zu sagen, worin die Verbindungen genau bestehen. Hobsbawm stellt sie folgendermaßen dar: „Es mag reiner Zufall oder willkürliche Selektion sein, daß Plancks Quantentheorie, die Wiederentdeckung Mendels, Husserls Logische Untersuchungen, Freuds Traumdeutung und Cezannes Stilleben mit Zwiebeln alle von 1900 stammen genauso gut wäre es möglich, das neue Jahrhundert mit Ostwalds Anorganischer Chemie zu eröffnen, Puccinis Tosca, Colettes erster Fassung des Romans Claudine und Rostands L'Aiglon - doch das Zusammentreffen der radikalen Neuerungen auf verschiedenen Gebieten bleibt auffällig.“

Alle diese Innovationen waren das Ergebnis des Versuchs, die Widersprüche, die aus der Weiterentwicklung der vorangegangenen Jahrzehnte resultierten, zu bewältigen. Es herrschte ein Gefühl, daß in den schönen Künsten „die konventionelle Sprache..., die auf der historischen Tradition basierte, für die moderne Welt irgendwie unangemessen und inadäquat war“. Und etwas Ähnliches war in den Wissenschaften passiert, wo die Veränderungen Teil des „allgemeinen Prozesses von umgewandelten und umgeschlagenen Erwartungen waren, die man zu dieser Zeit überall dort entdecken konnte, wo Männer und Frauen, in öffentlichen oder privaten Funktionen, mit der Gegenwart konfrontiert wurden und sie mit ihren eigenen oder den Erwartungen ihrer Eltern verglichen“.

Diese Reflexionen führen ein weiteres Paradox an, das Hobsbawm nicht ganz zufriedenstellend löst. Sowohl in den Wissenschaften als auch in den Künsten war es nur eine kleine Minorität, die von diesen neuen Entwicklungen berührt wurde, und sie beschränkten sich auf einige wenige europäische Zentren. Erst im späteren Verlauf des Jahrhunderts wurden die wissenschaftlichen Entdeckungen der ersten Dekade in verzerrter und vulgarisierter Form überall auf der Welt bekannt, wo Theorien, die nur wenige verstanden, zu technologischen Veränderungen führten, die alle betrafen.

1914 war der Name Einstein außer unter Physikern kaum ein Begriff... Innerhalb weniger Jahre während des Ersten Weltkrieges wurde Einstein, trotz der totalen Undurchschaubarkeit seiner Theorie für die meisten Fachfremden, vielleicht der einzigen Wissenschaftler seit Darwin, dessen Name und Image dem gebildeten Laienpublikum weltweit etwas sagte.

Masse und Elite

Bei der Betrachtung des Problems der Kluft zwischen Elite und Masse verfolgte Hobsbawm in bezug auf die Künste eine andere Argumentation: „Avantgardistische Kunst war für die breite Masse genauso unverständlich wie hochentwickelte wissenschaftliche Theorien, aber die, die sie ausübten, gehörten zusammen. Sie gehörten zu wortführenden Gruppen der regimekritischen Jugend, die sich in den Cafes der entsprechenden Stadtteile trafen. Sie kritisierten und entwarfen die Manifeste der neuen 'Ismen‘. Sie arbeiteten für kleinere Zeitschriften und gehörten zu den wenigen Impressarios und Sammlern mit Gespür und Geschmack für neue Werke und deren Urheber. Sie setzten sich ein für einen Teil der höheren Kunst. Das ist alles.“

Sogar dem bekanntesten Künstler des Jahrhunderts wird ein weitreichender Einfluß abgesprochen:

„Pablo Picasso..., ein Mann von außerordentlichem Talent und enormer Produktivität, wird vor allem als Phänomen bewundert und nicht (außer für eine Handvoll Bilder hauptsächlich aus seiner vor-kubistischen Periode) für die Tiefe der Wirkung oder einfach für den Genuß an seinen Werken.“

Es tut mir leid, daß Professor Hobsbawm keinen großen Gefallen an Picasso finden kann, aber auf jeden Fall unterschätzt dieses Urteil sowohl die Popularität Picassos, die sich an den Scharen zeigt, die seine Ausstellungen von Tokyo bis New York, London und Paris besuchten, als auch das Ausmaß, in welchem die Motive von Picasso und anderen Kubisten zu Beginn des Jahrhunderts von der Gebrauchskunst aufgenommen, genutzt und verbreitet wurden - Poster, Anzeigen, Gebäude und vieles mehr bezeugen das bis in unsere heutige Zeit.

Obwohl Hobsbawm einräumt, daß es „unklug ist, die Divergenz zwischen etablierten und kreativen Künstlern in einer spätbürgerlichen Kultur zu übertreiben“, fühlt er doch, daß die Kultur der Avantgarde und des Bürgertums die Kultur einer Minderheit ist. Er sieht somit die Eroberung der Welt durch das, was er die „plebejische Kunst“ nennt, als die wichtigste Entwicklung der Kultur des 20. Jahrhundert an. (Man kann nicht umhin, daran zu erinnern, daß Hobsbawm selbst ein ausgezeichneter Jazzkritiker war.)

Die neue industrialisierte Unterhaltungskunst läßt sich am besten am Film veranschaulichen. Nicht nur die Kluft zwischen der Kultur der Masse und der Elite vergrößerte sich, sondern es war auch so, daß das Kino „erstmalig eine Kunst verkörperte, die ohne die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht existiert hätte“. Daß darüber hinaus der außerordentlich schnelle Erfolg des Kinos schon vor 1914 lag, verdeutlicht einige der Veränderungen, die die alte Welt der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts aufbrechen ließen. Die Filmmillionäre schufen das Zentrum der neuen Industrie in Hollywood und leiteten damit die erste Phase des amerikanischen Zeitalters der Weltkultur ein. „Hollywood basierte auf der Verbindung von populärem Kintop und moralisch lohnender Melodramatik und Sentimentalität, wie sie von der gleich großen Masse der mittelständischen Amerikaner erwartet wurde.“ Die Widersprüche

unserer Vergangenheit

Auch wenn das europäische Kino bis in die zwanziger Jahre Filme von zweifellos hoher künstlerischer Qualität produzierte, sei Hollywood künstlerisch unbedeutend gewesen, behauptet Hobsbawm. Das gleiche, fügt er hinzu, gelte nicht für den ideologischen Gehalt: „Obwohl sich kaum jemand an die große Anzahl von B-Filmen erinnert, bediente sich doch die amerikanische Politik der zwanziger Jahre ihrer Moralvorstellungen.“

Eric Hobsbawm hat ein Buch geschrieben, das voller lebendiger und provozierender Urteile und ebenso voll faszinierender und entlegener Informationen steckt. (Wieviele Leser werden etwas „über den Streik der ultra -frommen Chassidischen Weber wissen, die rituelle jüdische Gebetstücher in einem verlorenen Winkel Galiziens herstellten“?) Das Buch ist auch eine brillante Antwort auf jene Kritiker, die beklagen, daß Geschichtswissenschaftler in einem Stil schreiben, der nicht mehr lesbar ist. Hobsbawm ist als „marxistischer Geschichtswissenschaftler“ bekannt und als solcher oft angegriffen worden. Sowohl in diesem Buch als auch in den zwei vorangegangenen Bänden der Trilogie handelt es sich um einen sehr differenzierten Marxismus, der sich in der Tat hauptsächlich an der Ausrichtung, dem Umfang, der Akzentuierung des Erzählten und der Vermittlung dialektischer Widersprüche als Grundlage für geschichtliche Veränderungen beweist. Es ist alles andere als engstirnig und doktrinär.

Zum Beispiel gibt Hobsbawm eine knappe und ausgewogene Darstellung marxistischer Imperialismus-Theorien und ihrer zahlreichen Kritiken. Ich nehme an, daß wenige Nicht -Marxisten protestieren werden, wenn Hobsbawm zu der Schlußfolgerung kommt, daß „egal, welche Ideologie vorherrschte, das Motiv für den Burenkrieg Gold war“, und daß „Politik und Ökonomie in einem kapitalistischen Staat genauso wenig wie Religion und Gesellschaft im Islam getrennt werden können“.

Manchmal wird das Wort „bourgeois“ als Sammelbegriff für verschiedene Bedeutungen gebraucht, und Hobsbawm unterschätzt vielleicht das Ausmaß in dem die Bourgeoisie die Werte des alten Hochadels akzeptierte und ihnen nacheiferte; so ermöglichte sie ihm, vor allem in England, einen Teil ihrer alten Hegemonie zu bewahren.

Die Stärke des Buches liegt darin, wie die in so vielerlei Hinsicht vollkommen vergessene Epoche mit unserer heutigen Situation in Verbindung gebracht wird. Es gibt, schreibt Hobsbawm, „eine Grauzone zwischen Geschichte und Erinnerung; zwischen der Vergangenheit als einem allgemeingültigen Dokument, das einer relativ objektiven Nachprüfung zugänglich ist, und der Vergangenheit, die Teil der persönlichen Lebenserinnerung ist“. Dieses „zeitliche Niemandsland“ ist schwer für uns zu greifen; und selbst wenn die Zahl der Leute, die, wie der Autor und der Rezensent dieses Buches, während des Ersten Weltkrieges geboren wurden und deren Eltern in der Blütezeit des Empire aufwuchsen, sich verringert, ist die Gesellschaft, in der wir leben, dennoch eine, die größtenteils „von Männern und Frauen gemacht wurde, die in der Zeit oder in deren unmittelbarer Folge aufwuchsen“. Um sie geht es in diesem Buch.

So bringt der Historiker dieser Epoche ein ganzes Konglomerat von Kindheitserinnerungen, persönlicher Erfahrung und Familientraditionen in seine Studien mit ein, die seinen Blick auf die jüngste Vergangenheit bereichern und die in Einklang gebracht werden müssen mit der objektiven Analyse einer Vielzahl unterschiedlicher historischer Quellen. Geschichte, wurde oft gesagt, ist wie Psychoanalyse: Durch Anaylsieren und Interpretieren der vergangenen Erfahrung werden Gesellschaften in die Lage versetzt, die Widersprüche ihrer Vergangenheit zu verstehen und mit der Komplexität ihrer Gegenwart umgehen zu können. In diesem Sinne ist Eric Hobsbawm ein Freudianer ebenso, wie er Marxist ist.

Übersetzt von Wiebke Reinkensmeier und Cornelia Jörgens