Wer hat Angst vorm sowjetischen Film?

In der DDR wurden fünf kritische sowjetische Filme aus den Kinos verbannt / Betroffene Filme im Vergleich zu neuen Produktionen eher harmlos / Alle Kinostreifen sind älteren Datums und greifen Tabuthemen behutsam auf / Andere „Tresorfilme“ werden noch gezeigt  ■  Von Hans-Joachim Schlegel

Berlin (taz) - Lenins Satz vom Film als der „für uns wichtigsten aller Künste“ verkam in realsozialistischen Kulturamtsstuben zum verstaubten Wandspruch. Und der linksavantgardistischen Hoffnung auf den Film als eines „verändernden Faktors einer sich verändernden Wirklichkeit“ hatten realsozialistische Schulmeister längst die ursprüngliche Spitze abgebrochen. Plötzlich tat sich da im Mai 1986 eine neue Perspektive auf, als sowjetische Filmemacher den Aufstand gegen eine machtarrogante Ministerialbürokratie wagten, die ihre besten Filme in Tresore sperrte. Sie setzten die alte Leitung ihres eigenen Berufsverbandes ab. Die verbotenen Filme holten sie aus den Tresoren und sie drehten neue zu bisherigen Tabuthemen.

Mit all dem waren die sowjetischen Filmemacher Avantgardisten der Perestroika und Glasnost geworden: Früher als in allen anderen Künsten zeigte sich die Perspektive des „zweiten Tauwetters“ in eben jener „wichtigsten aller Künste“. Und daß der Film nun auch wieder verändernd in einen verändernden Gesellschaftsprozeß eingreift, zeigen nicht nur die Schlangen vor Moskauer Kinos, sondern auch die Filmdebatten, die zu Gesellschaftsdebatten werden.

Der neue Wind, der da so unerwartet aus dem Osten aufkam, ließ in einigen Bruderländern des realen Sozialismus nicht etwa gleich nach den Frühlingskleidern greifen, sondern erst einmal die Mäntel zuknöpfen und die Kragen hochschlagen. Auch die Kinos öffneten sich nicht mehr so bereitwillig wie bisher all dem Neuen, das da aus Moskau kam. In der DDR beispielsweise war Tengis Abuladses Die Reue, ein antistalinistischer Schlüsselfilm der sowjetischen Glasnost, nur über den westdeutschen ZDF-Kanal, nicht aber in normalen DDR-Kinos zu sehen. Statt dessen konnte man in der Presse reichlich schulmeisternde Artikel über die Totalitarismus -Interpretation dieses nicht gezeigten Filmes lesen.

Berührungsängste mit Sowjetfilmen zeigten sich auch auf der letztjährigen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche: Ist es leicht, jung zu sein?, eine Dokumentation der anderen Sowjetjugend, die in Drogen und Jugendsekten flüchtet, Rock liebt und desillusioniert aus Afghanistan zurückkehrt, versteckte man in einem Nach-Mitternachts-Programm, das so zu einer Massenveranstaltung wurde. Und als der sowjetische Filmminister Kamschalov auf einer Pressekonferenz Mehr Licht!, eine filmische Rehabilitierung bislang tabuisierter Sowjetgeschichte, zur Vorführung anbot, fand man wegen „Programmüberfülle“ erst gar keinen Termin mehr.

Tresorfilme

Eine neue Perspektive auch für deutsch-deutsche Kinoprogramme tat sich auf, als im vergangenen Monat ein aus über 20jähriger Tresorhaft befreiter Sowjetfilm gleichzeitig in der BRD und in der DDR gestartet wurde - in einer DEFA -Synchronisierung übrigens: Aleksandr Askoldovs Bürgerkriegsfilm Die Kommissarin, der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet wurde, weil hier mit individuellen statt offiziös standardisierten Bildern auch gerade die menschliche Dimension des Revolutionskampfes gezeigt wird, nicht zuletzt die lange verschwiegenen drohenden Pogrome konterrevolutionärer „Weißer“ gegen die Juden. Ausgerechnet dieser Film ist nun mit vier weiteren Sowjetfilmen vorzeitig aus dem Programm der DDR-Kinos zurückgezogen worden: trotz oder vielleicht auch gerade wegen des großen Publikumsinteresses? Man möchte hiesigen Agenturmeldungen fast gar nicht glauben, zumal die betroffenen Filme eher „harmlos“ sind im Vergleich zu den jüngsten Produktionen vor allem sowjetischer Dokumentarfilmer, die tabufrei und konsequent antistalinistisch sind (wie der Film Prozeß aus der Fernsehserie Die Revolution geht weiter), die anklagend auf das tragische Schicksal von Intellektuellen und Künstlern in der Breschnew-Zeit hinweisen (Eine Gruppe von Genossen; Regie: Mark Ljachoveckij und Irina Margolina) und sogar am Beispiel des 1921 als Konterrevolutionär hingerichteten Dichters Nikolaj Gumiljov die Frage nach der Moral revolutionärer Gewalt zur Debatte stellen (Afrikanische Jagd von Igor Alimpiev).

Behutsamkeit

Die Filme, die jetzt aus DDR-Kinos zurückgezogen wurden, sind älteren Datums und greifen bisherige Tabuthemen erheblich behutsamer auf: Es sind zwei einstige Tresorfilme, die von der dies- und letztjährigen „Berlinale“ bestens bekannt sind: Askoldovs bereits erwähnte Kommissarin und Gleb Panfilovs Das Thema (Goldener Bär 1987), in dem es um einen Schriftsteller geht, der seine einstige Kreativität an die Karriere verriet, und um einen anderen, der seine Wahrheit nicht publik machen kann und sich so zur Emigration nach Israel entschließt - mit den Worten: „Lieber in der Fremde an Heimweh sterben als in der Heimat an Haß ersticken!“

Unter den Filmen jüngeren Datums auch ein in Mannheim mit Jurypreisen bedachter Debütfilm: Jurij Karas Morgen war Krieg. Hierzulande wird er gern in „Friedensfilm-Wochen“ gezeigt, er enthält einige ehrliche, aber keinesfalls radikal antistalinistische Szenen: Folter kommt nicht ins Bild. Der kalte Sommer des Jahres 1953 bringt antistalinistische Hinweise in einer Art Actionfim mit tieferer Bedeutung unter: Die erste Amnestie nach Stalins Tod „befreite“ zunächst Kriminelle aus den Lagern. Kriminelle, die sofort wieder ein sibirisches Dorf überfallen, dem nun ausgerechnet ausgebrochene Polithäftlinge Hilfe bringen. Spiele für Kinder im schulpflichtigen Alter, ein Film der estnischen Regisseure Lejda Lajus und Aarvo Iho (Grand Prix im Kinderfilm -Wettbewerb der Berlinale 1987) erzählt psychologisch -realistisch eine Geschichte aus dem Milieu eines Jugendwerkhofes für Kinder aus sozial zerrütteten Elternhäusern.

DDR-Aufbruch, trotzdem?

Gleichzeitig sollte uns diese Aktion gegen fünf sowjetische Filme nicht den Blick dafür verstellen, daß trotz alledem auch in der DDR-Filmpolitik Prozesse in Gang gekommen sind. Immerhin lief im diesjährigen Berlinale-Panorama Heiner Carows Die Russen kommen, ein Film, der jahrelang in den DDR-Tresoren lag. Und immerhin gibt es auch eine ganze Reihe von DDR-Dokumentaristen, die Problemzonen der eigenen Gesellschaft nicht mehr ausklammern. Roland Steiner etwa, der in Die ganze Welt soll bleiben Erich-Fried-Aussagen auch zu Tragödien linker Geschichte machen läßt, arbeitet derzeit an einem Film über neonazistische Skinheads in der DDR.

Am 25.November beginnt in Leipzig die „Internationale Dokumentar- und Kurzfilmwoche“. Man wird mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, welche Aspekte des neuen Sowjetfilms der Perestroika und Glasnost hier gezeigt werden. Aber interessant ist sicher auch, welche Folgen diese Filme „neuen Typus“ in den Arbeiten der anderen sozialistischen Länder nach sich gezogen haben, also auch in denen der DDR.