„Die Gefängnisse werden zu Massengräbern“

■ Sechs Wochen Hungerstreik von 2.000 politischen Gefangenen in der Türkei / Von Ömer Erzeren

Ihre letzte Hoffnung ist die Öffentlichkeit, erzählen die Mütter der politischen Häftlinge, die in den Hungerstreik getreten sind, seit die Regierung am 1.August die Haftbedingungen katastrophal verschlechtert hat. Während Ministerpräsident Özal betonte, die Gefangenen, die zum Teil schon in Krankenhäusern liegen, seien selbst schuld an ihrer Lage, sind in verschiedenen bundesdeutschen Städten - von Freiburg bis Hamburg - Dutzende von Kurden in einen Solidaritätshungerstreik getreten.

Der Fußboden des sozialdemokratischen Parteibüros in der kurdischen Stadt Diyarbakir ist mit Matratzen und Wolldecken ausgelegt. Dutzende Frauen in bäuerlicher Kleidung haben sich auf den Boden gelegt. Faltige Gesichter, die das Lachen und die Zuversicht verlernt haben, die Todesangst widerspiegeln. Die Mitfünfzigerin Saliha Sener kann kein Türkisch. Als wolle sie durch Schreien ihre Todesangst überwinden, spricht sie lauthals auf kurdisch ins Mikrophon: „Vor einem Monat haben sie mich verhaftet. Weil ich nicht zusehen wollte, wie mein Sohn im Gefängnis in den Tod getrieben wird. Elektroschocks haben sie mir gegeben. Haben mich aufgehängt und mißhandelt. Ich spucke Blut, immer noch.“

Nach ihrer Haftentlassung hat sich Saliha Sener sofort den Familienangehörigen der politischen Gefangenen, die den landesweiten Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen unterstützen, angeschlossen. „Seit neun Jahren ist mein Sohn im Gefängnis. Dieses Jahr hatten sie uns immerhin etwas zugestanden: Einmal in der Woche durfte ich ihn sehen. Ich konnte ihm Essen bringen, und er durfte sich zivile Kleidung anziehen. Jetzt haben sie alle Rechte wieder weggenommen. Deshalb sind unsere Kinder seit über einem Monat im Hungerstreik.“

Allein im berüchtigten Gefängnis Diyarbakir, wo man nach dem Militärputsch 1980 Dutzende von Häftlingen zu Tode oder zu Krüppeln gefoltert hatte, befinden sich 270 politische Gefangene in der sechsten Woche ihres Hungerstreiks. Am 24.Oktober haben türkische Zeitungen sensationslüstern berichtet, hier sei ein von Häftlingen gegrabener Tunnel entdeckt worden. Eine offenkundige Falschmeldung, die das Klima dafür schaffen sollte, gegen die Gefangenen vorzugehen. Ein Rechtsanwalt berichtet: „Nach der Meldung über den Tunnel stürmten Hunderte von Militärs und Beamten in Zivil ins Gefängnis. Mit Holzknüppeln wurden die Häftlinge der Reihe nach stundenlang verprügelt. Vier Staatsanwälte haben dem ganzen Schauspiel zugesehen.“ Er erfuhr das von einigen seiner Mandanten, die er besuchen durfte. Der „Tunnel“ war offensichtlich von langer Hand vorbereitet. Noch am gleichen Tag wurden 126 Gefangene in Ketten gelegt und in andere Haftanstalten transportiert. „Ist es nicht sonderbar, daß den Abgeordneten, die den Tunnel sehen wollten, der Zutritt zum Gefängnis verweigert wurde?“ fragt sich der Bezirksvorsitzende der Sozialdemokraten von Diyarbakir, Nurettin Aydin.

Ein Großteil der Verlegten sind Untersuchungshäftlinge, deren Prozesse seit Jahren in Diyarbakir geführt werden. Für jeden Prozeßtermin müssen sie jetzt bis zu 36 Stunden angekettet im Gefängnistransporter verbringen. Und zwei Tage Busfahrt müssen ihre Familienangehörigen in Kauf nehmen, um sie alle vierzehn Tage für wenige Minuten zu sehen.

„Wir sind Kurden, und wir sind arm“, sagt eine der alten hungerstreikenden Frauen im Parteibüro der Sozialdemokraten, deren Sohn nach Eskisehir verlegt wurde. Ich schaue auf die Entfernungstabelle meiner Landkarte: Genau 1.168 Kilometer sind es von Diyarbakir bis Eskisehir.

Die politischen Gefangenen in Diyarbakir haben außer ihrem Leben nichts mehr zu verlieren. Der Terror und die Folter der vergangenen Jahre haben ihren Widerstandswillen aber nicht gebrochen. Als Anfang dieses Jahres Mehmet Emin Yavuz bei einem Hungerstreik im Gefängnis starb und weitere Häftlinge im Sterben lagen, da bewirkte das eine Wende in den Gefängnissen: Die Regierung von Turgut Özal lenkte ein. In einer aufsehenerregenden Rede vor der Parlamentsfraktion der Mutterlandspartei versprach er, die Haftbedingungen zu verbessern. Fortan sollten die Gefangenen in ihrer Muttersprache Kurdisch sprechen dürfen, wenn ihre Verwandten sie besuchten. Und der damalige Justizminister Oltan Sungurlu stellte in Aussicht, die Häftlingsuniform abzuschaffen, die längst zum Symbol der menschenverachtenden Praxis in den Haftanstalten geworden war. Seit Februar verbesserten sich tatsächlich die Bedingungen in den Gefängnissen. Erlaubt war jetzt das Lesen von Büchern und Zeitschriften, Kassettenrecorder und Radios wurden zugelassen, die Besuchszeiten verlängert, und die Familienangehörigen durften Essen mitbringen.

Doch die Freude hielt nicht lange an. Mitte des Jahres wurden die Militärgefängnisse an zivile Gefängnisverwaltungen übergeben. Und die Rechte, die die Häftlinge den Militärs in langen Kämpfen abgetrotzt hatten, wurden wieder zurückgenommen. Mit einer ministeriellen Verfügung zum Strafvollzug vom 1.August heizte der Justizminister den Konflikt weiter an: Die Besuchszeiten wurden stark reduziert, Bücher und Zeitschriften gesperrt, Schikane und Prügel standen wieder auf derTagesordnung. Mit der neuen Verfügung hoffte das Ministerium auch, weitere Hungerstreiks verhindern zu können. Mit einer Disziplinarstrafe sollte künftig jeder bestraft werden, der „das durch die Verwaltung ausgeteilte Essen nicht zu sich nimmt“. Denunziation wurde zur Pflicht erklärt: Das „Nicht -Melden von Disziplinarverstößen Mitgefangener“ sollte genauso Strafen zur Folge haben wie das „Äußern politischer Meinungen“. Die Bilanz der regierungsamtichen Offensive: 2.000 politische Gefangene in 18 Haftanstalten der Türkei befinden sich mittlerweile im Hungerstreik. Dutzende liegen im Koma, rund 50 mußten schon mit Magenblutungen beziehungsweise Leber- oder Nierenschäden in Krankenhäuser gebracht werden. „Die Gefängnisse sind im Begriff, zu Massengräbern zu werden“, warnt die Istanbuler Anwaltskammer in einem offenen Brief an den Regierungschef.

Zynisch wird von Regierung wie Gefängnisverwaltung der Tod der Hungerstreikenden nicht nur einkalkuliert, sondern auch noch gefördert: Nach einer Verfügung des Justizministeriums ist es den Gefängnisärzten sogar untersagt, „streikverlängernde Mittel wie Zucker und Salz zu verabreichen“. Ein solches Verbot sei mit dem ärztlichen Berufseid nicht vereinbar, protestierte der Vorsitzende der türkischen Ärztekammer, Professor Nusret Fisek: „Die Verweigerung von Salz, Zucker und Wasser macht den Hungerstreik zu einem tödlichen Fasten.“ Sobald einer stirbt, will die Ärztekammer Strafanzeige gegen Justizminister und Regierung stellen. Langfristige Gesundheitsschäden seien bei den Gefangenen bereits jetzt absehbar. Die Regierung hält dagegen: „Für Tote sind wir überhaupt nicht verantwortlich“ - so ließ Justizminister Mehmet Topac verlauten. „Morgens, mittags und abends erfolgt die ordentiche Essensausgabe. Wer will, kann essen.“ Die Ärzte dagegen warnen davor, nach wochenlangem Hungerstreik unvermittelt Essen einzunehmen. Gerade dann seien Todesfälle nicht auszuschließen.

Das ausgeteilte Essen ist mit ein Grund für die Protestaktion der Gefangenen. 700 türkische Lira, umgerechnet 70 Pfennig, ist der offiziell festgelegte Tagessatz für das Essen. Angesichts dieser Zustände war es gang und gäbe, daß die Gefangenen sich mit dem Einkauf in der Kantine und dem mitgebrachten Essen der Familienangehörigen behalfen. Mit der Verfügung vom 1.August wurde der Kantinenverkauf eingeschränkt und den Familienangehörigen verboten, Essen mitzubringen.

Mit Gewalt versuchen die Gefängnisverwaltungen jetzt, den Widerstand zu brechen. Der Gefängnisarzt Cumhur Orhon, der während des Hungerstreiks in Gaziantep Gefangenen Mißhandlungen attestierte und Folterspuren nachgewiesen hatte, wurde strafversetzt. Auch gegen die Solidaritätsaktionen der Familienangehörigen ging der Staat ungewöhnlich hart vor. Mit Polizeiknüppeln wurde vorletzte Woche einem friedlichen Solidaritätshungerstreik von Familienangehörigen auf dem Sultanahmet-Platz in Istanbul ein Ende bereitet. 20 Personen sind immer noch in Untersuchungshaft. Mütter politischer Gefangener, die mit einer Verzweiflungstat im türkischen Parlament dem Justizminister eine Petition überreichen wollten, sind seit rund einem Monat in Untersuchungshaft. Obwohl der Minister ihnen Straffreiheit zugesichert hatte, wurde die Delegation

-darunter eine schwangere Frau - unmittelbar nach Verlassen des Parlamentsgebäudes festgenommen. Ähnlich erging es Studenten, die an den Gouverneur von Istanbul nach einer kurzen Demonstration eine Petition überreichen wollten. Viele Teilnehmer der Demonstration befinden sich in Untersuchungshaft.

Einer der Hauptverantwortlichen für den Konflikt ist der Generaldirektor der Strafvollzugsanstalten, Ilhan Yücel. Er hat die Verfügung vom 1.August verfaßt und versucht heute, mit Gewalt den Hungerstreik zu brechen. Jüngst veröffentlichte die Zeitschrift '2000'e Dogru‘ einen Artikel über die tadellose Biographie des Law-and-order-Mannes, der zwischen 1978 und 1983 der für das Gefängnis Ürgüp zuständige Staatsanwalt war. Ehemalige Häftlinge berichten übereinstimmend, wie er mit eigener Hand Gefangene folterte und auch gegenüber dem Wachpersonal nicht gerade zimperlich war: „Der Staatsanwalt Yücel hielt sich für den uneingeschränkten Herrscher. Eines Tages hatte der Wächter Mustafa Saglar Pappeln des Gefängnisses als Brennholz gefällt. Der Staatsanwalt stellt ihn vor die Wahl, seinen Fuß zu küssen oder ins Gefängnis zu kommen. Der Wächter küßte seinen Fuß.“

„Es sind doch nur demokratische, zutiefst menschliche Forderungen, die die Gefangenen haben“, versichert der Sozialdemokrat Aydin aus Diyarbakir. In diesem Sinne meldeten sich sogar Abgeordnete der regierenden Mutterlandspartei zu Wort. In Leitartikeln der Tagespresse ermahnen prominente Journalisten die Regierung zum Einlenken. Die Führungspitze der sozialdemokratischen Volkspartei appellierte an die Regierung, aber genauso an die Hungerstreikenden, den gegenwärtigen Zustand zu beenden. Während viele Mitglieder und untere Funktionäre der Sozialdemokraten sich für die Forderungen der Gefangenen einsetzen, hat der Parteivorstand Angst, der Hungerstreik könnte zu einer Kraftprobe zwischen der Linken und der Regierung Özal werden. Die Regierung jedenfalls will um jeden Preis hart bleiben. „Der Hungerstreik rührt von den politischen Gefangenen her. In den Gefängnissen sind 53.000 Gefangene, davon 30.000 in Untersuchungshaft. Wir können uns doch nicht um 1.000 hungerstreikende Gefangene kümmern und 52.000 beiseite schieben“, erklärt Justizminister Mehmet Topac. Für die Regierung ist der Hungerstreik bereits jetzt eine Kraftprobe zwischen Staat und „Terroristen“, und Ministerpräsident Özal rühmt die erbrachten Leistungen der Staatsmacht: „Es sind Kreise am Werk, die einen Teil der Gefangenen provozieren. Wir lesen die Geheimdienstberichte. Dem Staat kann nicht vorgeworfen werden, daß er nicht observiert.“