HEIL DIR, TAPFERER FREUND

■ Jürgen Goschs Einstand an der Schaubühne mit „Macbeth“

Einige liebgewordene Postkarten stecken als Lesezeichen in meinen Shakespearebänden. Es sind Szenen-Fotos des allerersten Hamlet-Films, produziert von Nordisk Film, 1910. Auf diesen Photographien trifft das großspurige und hohle Pathos der Theaterinszenierungen des 19. Jahrhunderts, von dem auch die mittelmäßigen Stiche in den illustrierten Klassiker-Ausgaben zeugen, auf das neue Medium der Photographie. Und so kommt es, daß man Menschengruppen, groß wie beim Konfirmationsunterricht oder der Schulentlassung, zusammengedrängt vor einem historischen Gebäude sieht. Wegen der langen Belichtungszeit beginnen die Protagonisten in ihren anstrengenden, ausladenden Posen schon zu wanken, während sich unter den vielen Statisten auf jedem Bild mindestens einer findet, der, das Verbot mißachtend, direkt in die Kamera blickt, als wolle er, zutraulich wie bei der ZDF-Live-Sendung, Grüße für daheim ausrichten. Diese Arrangements der Schauspieler finden sich nahezu originalgetreu in Jürgen Goschs neuer Macbeth-Inszenierung an der Schaubühne wieder, wenn auch in anderer Verkleidung.

„Was kleidet ihr mich mit geborgtem Glanz?“

Zuerst ist man noch verblüfft über die Kostümierung, die Gerd Troike, auch verantwortlich für das Bühnenbild (kahles, graues Halbrund, gleichermaßen bedeutungsschwer und sinnleer wie die ganze Inszenierung, mit dunkelgrauem Fußbodenbelag), den Schauspielern gegeben hat.

Dem Text zufolge treten in der zweiten Szene der schottische König Duncan mit seinen Söhnen, mehreren königlichen Heerführern und schottischen Edelleuten auf, und wer erscheint da auf der Bühne: eine bunte Mischung aus dem personellen Inventar der Oberammergauer Passionsfestspiele. Sämtliche Schauspieler, mit Ausnahme der Hexen, tragen stramm um den Leib gewickelte Bettücher. Diese sind zur allgemeinen optischen Aufheiterung in Pastellfarben gehalten, und machen, fest unter die Achselhöhlen gepreßt, aus dem schottischen Hof im Handstreich eine Gesellschaft von Sauna- oder Sanatoriumsbesuchern.

„Die neuen Ehren,/ wie neue Kleider passen nicht sofort“

Die Haar- und Barttracht der Kranken und Mühebeladenen Ferdinand Hodlers Bild „Die Lebensmüden II“ zeigt dagegen noch hoffnungsvolle Fälle von Rekonvaleszenten - ist, wenn man nicht seit „Ödipus“ um diesen Manierismus wüßte, passend zum aktuellen Filmskandal im Jesus-Look gehalten. Die männlichen Schauspieler tragen Mittelscheitel und schulterlanges Spaghettihaar zu einem dünnen, aber langen Frontbart, der streng herunterlappt wie ein Pfund Lametta. An den Füßen tragen diese kulturellen Pflegefälle schwarze Konfektionsstiefeletten.

Aus der Schaubühne am Lehniner Platz ist das geworden, was ihr auch die schärfsten Kritiker und Feinde nicht gewünscht haben können, eine kulturelle Mehrzweckhalle. Diesem Charme, wie ihn Oberstufenzentren zu versprühen vermögen, kann sich niemand entziehen, weder der Zuschauer noch Shakespeares „Macbeth“. Die Tribüne aus klarlackbehandelten Preßspannplatten im souverän getroffenen Ikea-Design macht den Zuschauerraum gleichermaßen aufgeräumt wie hellhörig und läßt die schuldbewußt-trotzigen Schritte der vorzeitig flüchtenden Zuschauer lange nachhallen.

„Er starb wie einer,/ der seinen Tod längst eingeübt“

Shakespeares „Macbeth“ galt bislang als die kürzeste und handlungsstärkste Tragödie des elisabethanischen Theaterautors, der auch deshalb der meistgespielte Klassiker ist, weil seine Stücke über knallige theatralische Effekte („blood and sweet“) verfügen und gleichzeitig Anreiz geben, die Texte in ihrer Tiefe und Vieldeutigkeit neu auszudeuten. Goschs zweifelhafte Leistung beziehungsweise sein zweifelhaftes Verdienst, sofern man ihm denn eines zubilligen will, demonstriert, wie man selbst aus „Macbeth“ noch ein mühseliges, fünf Stunden währendes Mysterienspiel machen kann.

„Nur blicke klar:/ Die Miene ändern bringt Gefahr“

Shakespeare scheint für Gosch austauschbar mit jedem anderen Theaterautor zu sein, denn sein Ansatz und Regiekonzept besteht darin, jeden klassischen Autor in heroisches Gewand und lächerlich antiquierten Sprachgestus zu kleiden. Die „Ödipus„-Inszenierung im Hamburger Thalia -Theater, 1986 beim Theatertreffen zu sehen, wie auch der „Sommernachtstraum“ in Amsterdam waren exakt im gleichen Stil gehalten, nur standen die Schauspieler dort auf hohen, stilechten Kothurnen und trugen statt der Hippie-Perücken die klassische Maske des griechischen Theaters. Gleich bleibt der Goschsche Lakenfetischismus für seine Darsteller und seine Vorliebe für möglichst unbewegte, statuarische Arrangements und endlos zerdehnte Auf- und Abgänge.

Shakespeare erzählt die Geschichte von Macbeth, der, verführt und angestachelt von den Prophezeiungen der Hexen und den Einflüsterungen seiner karrieresüchtigen Frau, den schottischen König Duncan ermordet, als dieser bei ihm zu Gast ist. Dies hat zwar zur Folge, daß Macbeth zum König ernannt wird, aber, von Schuldgefühlen und Gewissensbissen höllisch geplagt, sich beim Festmahl selbst verrät, und seine Lady, von manischen Depressionen heimgesucht, Selbstmord begeht.

Sowohl die von Macbeth geäußerte Beteuerung - um bei der Entdeckung der Leiche den Verdacht von sich zu lenken - der Tod des von ihm selbst erstochenen Königs raube ihm die innere Ruhe und - im Gegensatz zu den Zuschauern - den tiefen Schlaf, als auch die zwanghafte Verdrängung der Lady Macbeth, Händewaschen helfe auch bei Blutflecken, bewahrheiten sich bei Shakespeare als Ironie des Schicksals und treten buchstäblich ein. Denn Macbeth leidet fortan unter Schlaflosigkeit, während die Königin in geistiger Umnachtung sich stundenlang die Hände wäscht. Im Publikum lacht man schon vereinzelt über diese ungewollte (?) Selbstironie. Als Macbeth darüber klagt, daß ihm die „unselige Tat“ den Schlaf geraubt habe, bezieht man die „schlafstörende“ Tat auf die Gosch-Inszenierung selbst, und als Libgart Schwarz, eine Wahnsinnige mimend, sich statt manisch eher maniriert die Hände wäscht, als wolle sie für „Robert Lembkes heiteres Beruferaten“ kandidieren, da flüstert es schon vereinzelt „Waschzwang“

Macbeth: „Gute Ruh, derweil!“

Rechts und links macht sich Langeweile breit und breiter, kaum läßt die Beleuchtung es zu, liest man im Programmheft und popelt wohl auch mal in der Nase, weniger um dort eine Erklärung zu finden als aus einem ganz natürlichen Reflex des Wartens (auf Shakespeare, nicht auf Godot, den Gosch demnächst bereithält). Wird der Tod der Königin von einem Boten auf der Bühne gemeldet, ruft ein grauhaariger, distinguierter Premierenbesucher hinter mir: „Wir tragen's mit Fassung!“ Bringt man die große Tafel für das Festmahl herein, an der sich Macbeth durch unkontrollierte Schreckensvision bloßstellen soll, werden diese comichaften Requisiten und Möbel (viele kleine Tellerchen und Becherchen und Stühlchen) so laut vernehmlich mit „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ in Verbindung gebracht, daß man sich von Macbeths Zwangsvorstellung, von seiner inneren Zerrissenheit und einem tragischen Moment beim besten Willen und aller blinder Nachsicht keine Vorstellung mehr machen kann.

Macbeth: „Und wenn's mißlingt?“ Lady Macbeth: „Mißlingt? Schraub deinen Mut so hoch es geht, und es mißlingt uns nicht.“

Ob der neue künstlerische Leiter des Luxusdampfers am Lehniner Platz diesen Effekt hervorrufen wollte, blieb bis zum Schluß fraglich. Denn obgleich sich Gosch wahrscheinlich irgendwie vorgenommen hatte, den Individuumsbegriff des klassischen Helden zu demaskieren, sind bei der Inszenierung, wie auch schon bei der völlig überflüssigen Neuübersetzung die an die Schlegelsche in keiner Zeile heranreicht (die verwendeten Zwischenüberschriften sind Zitate aus der Goschschen Fassung), und im wesentlichen von dem Gedanken an die Tantieme für den Übersetzer geprägt ist, nichts weiter als Zumutungsrollen für die Schauspieler herausgekommen. Und die müssen nun Abend für Abend auf der Bühne beweisen, daß sie entweder trotz der Inszenierung wie Walter Kreye in der Titelrolle, der erstaunlich souveräne Ernst Stötzner, Michael König und Gerd Wameling in der entwürdigenden Pförtnerszene über einen großen schauspielerischen Fundus verfügen, oder eben wie der Hexenchor und die Mehrzahl der Nebendarsteller ohne eine förderliche Regieführung recht bloß und nackt mit dünnen Stimmen im Bettuch dastehen. Das Publikum weigerte sich teilweise schon jetzt, Gosch auf diesem mühevollen Weg, der sicher nicht sein letzter sein wird, zu begleiten, und blieb der Beerdigung schon nach der Pause fern.

Susanne Raubold