: OH WHAT JAZZ
■ „Kurve 64“ im Flöz
In der Lower Eastside von Manhattan gibt es eine Straße, in der sich ein Musikclub an den anderen reiht. Bei meist freiem Eintritt spielen Bands, deren Namen man noch nie gehört hat, Hardcorepunks Wand an Wand mit Freejazzern. Man hört ein paar Titel, geht weiter, bleibt irgendwo hängen, hört zu bis in den Morgen. Man braucht sich nicht um die großen Namen zu scheren, die doch überall gleich klingen.
In Berlin gibt es eine solche Straße nicht. Man muß weite Strecken zurücklegen, um eine Überraschung zu erleben, nicht selten eine böse, wo sich cool gebende Mucker dilettieren. Nicht so derzeit im Flöz. Es spielt auf eine unlängst neu gegründete Berliner Jazzband mit dem unscheinbaren Namen „Kurve 64“. Die sechs jungen Männer spielen drauflos, als hätten sie jahrelang auf nichts anderes gewartet. Sie sind heftig, direkt, bewegen sich zwischen funkigen Contrabaßläufen, eruptiven Schlagzeugwirbeln und filigran gewebten Gitarrenriffs. Nicht zu vergessen die dreihörnige Bläsergruppe, mit Alt-, Tenorsaxophon und Trompete. Ihre Musik klingt frisch wie aus dem Backofen, man glaubt, ihre Vorbilder herauszuhören, aber sie äffen einen Ornette Coleman nicht nach, sondern bewegen sich frei zwischen Jazztradition mit Swinganleihen und einem neu erstarkten Freefunk. Sie produzieren weder einen sphärischen Masturbations-New-Age-Schleimjazz, noch den kindlichen Zerhacklärm, der nur noch mit schepperndem Krach auf sich aufmerksam machen will.
Der Schlagzeuger Walter McLean sieht nicht nur ein wenig wie Ronald Shannon Jackson aus, er trommelt auch fast so kraftvoll. Häufige Rhythmuswechsel variieren die Geschwindigkeit, geben den anderen Platz für ein Solo. Die klassische Songstruktur wird durchbrochen, statt krampfhaftem Improvisieren über ein Thema Spaß an der Bewegung. Der Swing dieser Kapelle überträgt sich direkt in den Barhocker, ohne Umwege durch die Gehirnwindungen. Eine solche Band auf dem Jazzfest wäre ein angemessenes Aufputschmittel gegen die Schlaftabletten-Verabreicher gewesen.
Mit dieser Musik in den Venen kann man beruhigt durch die eiskalte Nacht nach Hause stapfen, Erfrierungen sind nicht zu befürchten.
Andreas Becker
„Kurve 64“ heute noch einmal bei freiem Eintritt im Flöz, 21 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen