Auf dem Weg ins vorige Jahrhundert

Ein grüner Europaparlamentarier sieht im gemeinsamen Markt ein „vorkonstitutionelles Europa“  ■  Von Wilfried Telkämper

Den BürgerInnen im EG-Europa steht das Wirtschaftsparadies ins Haus. Nach einer Befragung von 11.000 Firmen wird ein Wachstumsschub von vier bis sieben Prozent des realen Sozialproduktes innerhalb der EG durch die Einführung des europäischen Binnenmarktes 1992 erwartet. Die Arbeitslosigkeit soll genauso deutlich zurückgehen wie die Inflationsrate. Kurz: Wer kann sich dieser Europa-Euphorie verschließen, die vor den Europawahlen im kommenden Jahr die Medien bestimmen wird? Warum sollte man das auch, verspricht dieses Europa doch ein Konsumparadies erster Güte zu werden?

Gäbe es da nicht die seit geraumer Zeit schon beobachtbaren Gefahren des geplanten freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmarktes. Angesichts eines in seinen Dimensionen nur noch mit den USA vergleichbaren Marktes, mit mehr als 320 Millionen Konsumenten, die eine Kaufkraft von 3.000 Milliarden Mark jährlich aufbringen, läßt sich die wirtschaftspolitische Machtelite der BRD zu beängstigenden Aussagen hinreißen.

Neue Reichsgründung?

Schon ist die Rede von einer „neuen Reichsgründung“. Das Schlimme ist, die verantwortlichen Binnenmarktarchitekten haben auch noch recht damit. Zumindest was die demokratischen Defizite angeht, befindet sich Europa auf dem besten Weg ins vergangene Jahrhundert, gleichsam vor die Zeit der 48er Revolution. Hans Magnus Enzensberger bringt es auf den Punkt: Es ist dieser „vorkonstitutionelle Zustand“ der EG, der die europäische Integration zu einem höchst gefährlichen Projekt verkommen läßt. Die seit Montesquieu sattsam bekannten Grundelemente demokratischen Handelns, zum Beispiel die Gewaltenteilung im Staat, sind innerhalb der EG schändlich umgangen worden.

So verwundert es keineswegs, daß der gemeinsame Markt zunächst ohne jegliche sozialpolitische Absicherung in Angriff genommen worden war. Erst im September dieses Jahres wurden Flankierungsmaßnahmen vorgelegt. Der oberste EG -Kommissar Delors gibt unverhohlen zu, daß diese Maßnahmen mit Absicht nicht in das Weißbuch der EG-Kommission hineingeschrieben wurden, „sonst wären ja die Wirtschaft und alle gegen den Binnenmarkt gewesen“.

Das, was die europäischen sozialen Bewegungen der letzten hundert Jahre erreicht haben, sei es im Bereich der Gewerkschafts- und Menschenrechtspolitik, des Umwelt- und des Verbraucherschutzes, der Kultur- und Sozialpolitik, plötzlich, so scheint es, steht alles wieder zur Disposition. Stattfinden wird eine Angleichung auf dem jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner.

„Harmonisierung“ und „Deregulierung“ sind die Säulen eines sich auf Wildwestniveau regulierenden gigantischen Marktes. Die Unternehmen werden in ihrer Standortwahl flexibler und können sich künftig nach Belieben die Regionen aussuchen, die ihren Interessen am wenigsten Gegenwehr verheißen. Sei es mit dem Argument der Sozialgesetzgebung oder der Umweltschutzbestimmungen: Die Drohung einer Standortverlegung hat in der Bundesrepublik, sei es auf seiten der Gewerkschaften oder bei der Regierung, noch immer Wirkung gezeigt. Die „Harmonisierung“ und (Manchester-) Liberalisierung führen zu einer Entmündigung der europäischen Bevölkerung. Durch die Entscheidungen im Ministerrat ist die parlamentarische Kontrolle in EG-Europa weiterhin aufgehoben. Ein großer Teil der noch nationalstaatlichen Befugnisse werden nach Brüssel an EG -Kommission und Ministerrat abgegeben. Das Europäische Parlament ist eine Versammlung von Parlamentariern ohne Rechte.

Der Garten Eden?

Der Binnenmarkt verspricht Wachstum durch neue Technologien und die Erschließung neuer Märkte. Jacques Delors, Präsident der EG-Kommission, spricht in diesem Zusammenhang von „Schockwirkungen, die ganzen Branchen und Regionen an den Lebensnerv gehen dürften“. Im Vorwort des sogenannten Cecchini-Berichtes schreibt er: „Dieser große Binnenmarkt ist durch seine Ausmaße ebenso wie durch die neuen Möglichkeiten, die er für eine technologische und handelspolitische Zusammenarbeit bietet, ein unersetzlicher Trumpf, den wir zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen einsetzen können.“ Delors schließt dabei sozialen Fortschritt nicht aus und verlangt flankierende Maßnahmen, die den „Zusammenhalt der Gemeinschaft durch Unterstützung der weniger entwickelten Regionen stärken“ soll. Bereits 1958 wurde in der Präambel der Römischen Verträge das Ziel festgehalten, „den Rückstand wenig begünstigter Regionen zu verringern“.

Warum aber sollte jetzt plötzlich das geschehen, was in den vergangenen dreißig Jahren unterlassen wurde?Betroffen hiervon sind nicht nur die Bauern und Bäuerinnen, die schließlich die nicht mehr nahrhaften und vergifteten Produkte essen müssen. Natur und Landschaft werden dabei zerstört. Wäldersterben, Meeresverseuchung, Alpenkatastrophen werden mit der Umstrukturierung der Wirtschaft sich noch verstärken. Die „flankierenden Maßnahmen“ zum Schutz der Umwelt, der Arbeitnehmerrechte, des Verbraucherschutzes werden genauso verpuffen, wie das kurzfristige Wachstum der Wirtschaft seine, nicht nur zeitlichen Grenzen finden wird. Schon jetzt hat der Binnenmarkt folgende Zustände heraufbeschworen, bevor er überhaupt vollendet ist:

-Firmenfusionen im großen Stil, wie beispielsweise ganz aktuell Mercedes Benz und MBB;

-ständiges Unterlaufen parlamentarischer Entscheidungen durch Kompetenzverlagerungen von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten nach Brüssel zu Rat und Kommission;

-die Aufhebung des Konsensprinzips bei den Entscheidungen der EG-Staaten;

-fehlende Programme für die 15 Millionen Arbeitslosen in der Gemeinschaft;

-eine Veränderung der Grenzwerte zu ungunsten der Verbraucher;

-die mögliche Aufgabe aller Beschränkungen für die Energieversorgungsunternehmen;

-die Erlaubnis, bio- und gentechnologisch erzeugte Produkte auch in Länder zu verkaufen, in denen dies bisher untersagt ist.

Brüssel wirkt vor Ort,

EG-Politik ist Lokalpolitik!

Wilfried Telkämper sitzt für die Grünen im Europaparlament.