Die zwei Gesichter der Wahrheit

UEFA-CUP: Bayern München - Inter Mailand 0:2 / Bayrische Gastfreundschaft für Matthäus und Co.  ■  Aus München Werner Steigemann

Die Wirklichkeit verhält sich zur Wahrheit wie die Lüge zum Märchen, oder anders ausgedrückt, zwei erleben dasselbe und doch was Verschiedenes. Freilich hängt dies auch mit dem augenblicklichen Zustand des Betrachters zusammmen. Der wiederum wurzelt beim Fußballwettkampf im Gefühl des Sieges oder der Niederlage. Und weil Glückseligkeit sich durchaus eignet, den Blick zu verschleiern, ist es zu verzeihen, daß der elegante Herr Giovanni Trappatoni, ein italienischer Udo Lattek (mit beachtlichen Anklängen an Louis de Funes, d. säzz.), die Partie der Bayern gegen Inter Mailand zu einer guten erklärte.

Auch ermöglicht sie dem Erfolgreichen generöse Komplimente. Artig bedankte er sich für die zuteil gewordene bayrische Gastfreundschaft und erzählte, daß die Bayern eine ausgezeichnete Mannschaft hätten. Gebildet, wie er zu sein scheint, nahm er Zuflucht in die Physik und erkannte einen dauernden „Druck“, ausgehend von den Münchnern während des Spieles. Dadurch hätten sich „Räume“ für seine Inter -Mannschaft ergeben, die diese mit Hilfe eines Quentchens „Glück“ in zwei Tore umgemünzt hätten. Dann mußte er mit den italienischen Journalisten die Pressekonferenz verlassen, der Flieger für den Rückflug wartete schon sehnlichst auf die siegreiche Inter-Elf.

Dagegen stellte sich der enttäuschte Jupp Heynckes tapfer den Fragen der noch enttäuschteren Münchner Presse. Vorab widerlegte er seinen Mailänder Kollegen mit der Aussage, daß seine Mannschaft keinen „Druck“ zustandegebracht und unter ihren Möglichkeiten gespielt habe. Erstaunlicherweise erhellt eine Enttäuschung bei manchem den Blick für die Wirklichkeit. Heynckes sah ein „schlechtes Fußballspiel“ und nur drei Torchancen für seine Mannschaft. Unglücklich sei das 0:1 gefallen und das 0:2 einem psychologischen Tiefschlag gleichgekommen.

Dabei hatte der Abend doch so nett angefangen. Fast ausverkauft war das Olympiastadion, und der Stadionsprecher trainierte mit den frierenden Zuschauern die mexikanische Welle. Bayrische Blaskapellen spielten, derweil Loden- und Kamelhaarmäntel auf den teuren Plätzen miteinander plauschten.

Allein die Fußballinteressierten sahen schon in den ersten zehn Minuten des Spieles das Unheil für die Bayern heraufziehen. Der Nummer 11 der Mailänder, Aldo Serena, war es erlaubt, zweimal mutterseelenallein auf das Tor von Aumann zuzuhasten. Wohlfarth aus der Bayern-Elf dämpfte die böse Ahnung etwas, als er die erste der drei Chancen bekam und vergab. Das wär's auch schon mit den Vorkommnisssen vor der Pause, vergißt man den Holzfäller-Reifenschlag Pflüglers in die Beine von Matthäus, der ihm die gelbe Karte bescherte.

Vielleicht hatte in der Halbzeit Heynckes seinen Spielern geflüstert, wie man gegen Inter Erfolg haben könnte, denn seinen Mannen spielten zehn Minuten lang besser. Danach fiel das 0:1, von eben diesem Serena erzielt. Die Bayern spechteten auf Abseits, nicht bedenkend, daß jenes aufgehoben wird, wenn der Ball vom Gegner kommt. Dorfner, einer der wenigen guten Bayern-Spieler, verlängerte einen Paß von Brehme elegant mit dem Kopf zu dem Mailänder Torschützen. Wenig später durfte es Wegmann seinem Erzfeind Wohlfarth gleichtun und die Lederkugel freistehend vor dem italienischen Nationalkeeper Zenga nicht im Tor unterbringen.

Wie man es besser macht, zeigte der beste Mailänder, Nicola Berti. Unbehelligt von jeglicher bayrischen Abwehr rannte er über das halbe Spielfeld, um den Ball dann unter Aumann hindurch ins Tornetz rollen zu lassen. Spätestens jetzt war es selbst den Fans klar, daß die an diesem saukalten Abend bessere Mannschaft gewonnen hatte. Einzig Augenthaler wollte sich nicht damit abfinden und versuchte sich als zweiter Mittelstürmer, wohl dem alten philosophischen Fußball-Axiom gedenkend, daß ein Spiel neunzig Minuten dauert. Fast wäre ihm auch noch Erfolg beschieden gewesen mit dem Ehrentor.

Der Trainer der Mailänder hingegen widerlegte obiges Axiom, indem er verlauten ließ, daß im UEFA-Cup ein Spiel 180 Minuten dauere, und seine Mannschaft sich nicht dem Traum eines Sieges bei Halbzeit hingeben solle. Heynckes sah die Chancen seiner Mannschaft im Rückspiel aufs Minimalste begrenzt, und wäre er bayrischen Gedankenguts mächtig, würde er „Aus, Äpfe, Amen“ sagen.

MÜNCHEN: Aumann - Augenthaler - Nachtweih, Grahammer, Pflügler - Reuter (70. Ekström), Dorfner, Thon, Kögl Wohlfarth, Wegmann

MAILAND: Zenga - Verdelli - Bergomi, Ferri, Baresi Matteoli, Bianchi, Berti, Brehme, Matthäus - Serena

TORE: 0:1 Serena (60.), 0:2 Berti (71.)