„IST DEIN VATER JUDE?“ - „NEE, STOCKARBEITER.“

■ Zu der Ausstellung „Zehn Brüder waren wir gewesen ... Spuren jüdischen Lebens in Neukölln“ im Heimatmuseum Neukölln

Kurz vor seiner Ermordung in Auschwitz, 1942, komponierte der Neuköllner Arbeiterchorleiter Rosebery d'Arguto den Jüdischen Todesgesang. Titel: „Zehn Brüder waren wir gewesen“ In Anlehnung an das jiddische Volkslied „Tsen Brider“ formulierte er hier das Wissen um den bevorstehenden Tod - in der Gaskammer:

(...) Ein Bruder bin ich nur geblieben/ Mit wem soll ich nun weinen?/ Die and'ren sind ermordet/ Denkt ihr an alle neun/ (...) Yidl mit der Fiedel/ Moysche mit dem Baß/ Hört mein letztes Liedel/ ich muß auch ins Gas.

„Zehn Brüder waren wir gewesen“ ist auch der Titel einer Ausstellung im Heimatmuseum Neukölln, die dem Leben jüdischer Neuköllner nachgeht. Bewußt setzen die Veranstalter hierbei das Ende dieses Lebens an den Anfang ihrer Ausstellung: Im Eingangsraum befindet sich eine Liste mit den Namen der (bisher bekannten) 485 Menschen, die aus Neukölln direkt in die Vernichtung deportiert wurden. Gegenüber eine Reihe namenloser Familien- und Erinnerungsfotos; am Kopfende des Raumes die Rekonstruktion eines Teils der wohl einzigen Neuköllner Synagoge mit Thoraschrein und Thoravorhang.

Rixdorf bzw. das spätere Neukölln waren - im Vergleich zu anderen Stadtbezirken - nie Zentren jüdischen Lebens in Berlin. 1925 etwa lebten und arbeiteten hier von den insgesamt 172.672 Berliner Juden ganze 2.832. Dementsprechend geringen Raum nimmt daher die Darstellung traditionellen jüdischen Lebens (Synagogen, Wohltätigkeits und Frauenvereine, Schulwesen etc.) in der Ausstellung ein. Im Mittelpunkt stehen - mit Hilfe von Fotos, Interviews und Archivmaterialien rekonstruierte - Lebensläufe von Personen, die häufig erst durch die Rassengesetzgebung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten an ihre jüdische Herkunft erinnert wurden. Typisch hierfür ist die Erzählung von Fridl Hensel-Lewin, Tochter eines Sozialdemokraten und Mitgliedes des Neuköllner Arbeiter- und Soldatenrates Arthur Lewin: „(...) wir mußten immer Zeitungen austragen, da war ich 14 Jahre alt und mußte das Zeitungsgeld kassieren. Dabei fragte mich ein Schumacher in der Boddinstraße: 'Wie heißt du denn?‘ - 'Lewin.‘ - 'Ach, ist dein Vater Jude?‘ - 'Nee, Stockarbeiter.'“

Jedoch, weder ein Leben im stark ausgeprägten Neuköllner Arbeitermilieu noch begeisterter Hurra-Patriotismus, weder ein gemeinsamer Arbeitsplatz noch sozialpolitisches Engagement schützten vor einem immer massiveren Antisemitismus. „Judenfreies Ärztekasino“ ist - im Katalog ein Abschnitt betitelt, der vom Stammtischantisemitismus im Krankenhaus Neukölln berichtet. “... die haben sich nicht mehr neben uns gesetzt...“ ein anderer, der Schulerfahrungen jüdischer Kinder beschreibt. Ärgerlich und mißverständlich erscheint in diesem Zusammenhang folgender Satz aus dem Katalog, S. 16: „(...) die stärkere Öffentlichkeit jüdischen Lebens (im Gefolge der Reichsgründung 1871, A.R.) aber provozierte gleichzeitig eine neue Welle des Antisemitismus.“ Als wären die Betroffenen selber schuld gewesen.

Am beeindruckendsten ist derjenige Teil der Ausstellung, der die Zeit des Nationalsozialismus dokumentiert. Sondergesetze und Verordnungen gegenüber den Juden werden auszugsweise wiedergegeben; was sie im Alltag der Betroffenen für verheerende Folgen nach sich zogen, wird dann an einzelnen persönlichen Beispielen konkret und für den Betrachter nachvollziehbar. Ob „Arisierung“, Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung, direkte Verfolgung und Emigration - erahnen lassen sich hier die Tragödien, die in den Jahren vor der Deportation durch diese Maßnahmen angerichtet wurden. Die Verfolgung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung geschah zu einem großen Teil in Form von Verwaltungsmaßnahmen, daher ist auch eine Dokumentation dieser Vorgänge weitgehend auf schriftliche Quellen angewiesen.

Eine nicht selten zu beobachtende Reaktion jüdischerseits auf die erlittenen Maßnahmen war das Festhalten an dem Recht auf ein Leben in Deutschland, das als Heimat und Ort, den man nicht verlassen wollte, begriffen wurde. Im Gefolge der Pogromnacht war auch der letzte Neuköllner Rabbiner, Kantorowsky, verhaftet und nach Sachsenhausen verschleppt worden. Da seine Familie Schiffskarten nach Shanghai besorgt hatte, wurde er vorzeitig entlassen. Die Tochter beschreibt seine Reaktion nach der Entlassung: „Ich werde seine Rückkehr nie vergessen; ein gebrochener, kahlgeschorener Mann, der mühsam die Treppe heraufkam, und dessen Kleidung so stank, daß man nicht daneben stehen konnte. (...) Trotz alledem sagte er das, was er früher über die Vereinigten Staaten gesagt hatte: 'Shanghai?, Was soll ich in Shanghai? Was gibt es in Shanghai?‘ Und wissen Sie, was er tat? Er gab die Schiffskarten zurück.“

Bei ihren Recherchen haben die Ausstellungsmitarbeiter auch nichtjüdische Neuköllner befragt; diese erinnerten sich an den jüdischen Hausarzt, beliebte Lehrer oder langvertraute Nachbarn. Doch jedesmal, wenn es um die Ereignisse in der Nacht vom 9. zum 10. November ging, entstand Schweigen. „Wir mußten den Eindruck gewinnen, als ob Neukölln am Morgen des 10. November 1938 menschenleer gewesen sei“, ist das Fazit im Vorwort des Katalogs.

Daß dieses Schweigen - 50 Jahre danach - auch Ausdruck des Wissens um die eigene Mittäterschaft ist, mag die Anzeige Nr. 214 aus dem Meldebuch des 211. Polizeireviers Berlin -Neukölln belegen: „Am 25. August 1942 gegen 20.00 erschien (...) die Ehefrau Lucie Friedrich (...), Emserstraße 90 wohnhaft, und gibt an, daß in demselben Haus (...) die Jüdin Sarah Freundlich (...) mit ihren zwei Söhnen (...) als Mieter wohnhaft ist. Diese soll angeblich von der Stapo ein Schreiben besitzen, daß sie am Donnerstag, den 27. August 1942 aus ihrer Wohnung geholt wird. Die F. soll geäußert haben, daß sie lebend ihre Wohnung nicht verlassen werden. Es besteht der Verdacht, daß die Familie durch Leuchtgas Selbstmord verübt. Die übrigen Mieter befinden sich in einer Explosionsgefahr. Es wäre angebracht, diese Personen rechtzeitig aus der Wohnung zu entfernen.“

Andreas Reinke

Die Ausstellung „Zehn Brüder waren wir gewesen“ ist noch bis zum 21. Mai 1989 im Heimatmuseum Neukölln, Ganghofer Straße 3 zu besichtigen. Der Eintritt ist frei, der Katalog kostet 25 DM.