piwik no script img

Die Pädagogik der Unterdrückten

■ Ein Gespräch mit dem Brasilianer Paolo Freire, dem Begründer der revolutionären Alphabetisierungskampagne

Paulo Freire, einer der wichtigsten Autoren für die Volkskulturbewegung, ist Begründer einer revolutionären Methode der Erziehung, die Tausenden von brasilianischen Armen Lesen und Schreiben - und politisches Bewußtsein lehrte. Seine Bücher, die in der ganzen Welt eine Schlüsselstellung in der Erwachsenen-Alphabetisierung einnehmen, wurden in vielen Diktaturen verboten, wie beispielsweise in Südafrika und kürzlich in Haiti. Nach dem Rechtsputsch 1964 in Brasilien war Freire ins Exil gegangen und kehrte 1980 in sein Land zurück. Vivian Schelling sprach in Sao Paulo mit ihm über die Bedeutung seines Werkes.

Vivian Schelling: In Ihren Arbeiten geht es um mehrere wichtige Themen, die mit Kultur und Politik zu tun haben. Sie analysieren die Beziehung zwischen Sprache und Macht, Sie entwickeln eine Theorie der Erziehung als Dialog. Dabei scheint mir aber, daß vor allem das Konzept der „Pädagogik der Unterdrückten“ zum Verständnis Ihres Werkes von fundamentaler Bedeutung ist.

Paolo Freire: Ihre Frage führt mich dreißig Jahre zurück, zu einer Zeit nämlich, in der ich den politischen Charakter von Erziehung noch nicht begriffen hatte. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß Erziehung nicht nur ethische und ästhetische Praxis ist, sondern ein politischer Akt, ein Dialog, ein Akt der Produktion von Bewußtsein.

Als ich in den Sechzigern im chilenischen Exil war, begann ich, die Erfahrungen, die andere und ich im ursprünglichen Kontext von Brasilien gemacht hatten, neu zu lesen. In diesen neuen Kontext war ich im Moment einer intensiv politischen Situation gekommen, als gerade die Christdemokraten an die Macht gekommen waren. Dies brachte mich dazu, durch Analyse dessen, was ich in Brasilien erreicht hatte und was in Chile passierte, das Offensichtliche zu sehen, nämlich den politischen Charakter von Erziehung. Das heißt nicht, daß meine frühere Arbeit in Brasilien nicht politisch gewesen war, im Gegenteil war sie äußerst politisch. Aber das wußte ich nur theoretisch; die Verantwortung dafür hatte ich noch nicht angenommen. Als ich in Chile war, explodierte dieses Begreifen in meinem Bewußtsein, und ich mußte zu dem Schluß kommen, daß neutrale Erziehung unmöglich ist. Erziehung dient immer einem bestimmten politischen Traum, einer etablierten Macht, einer bestimmten Gruppierung von Klasseninteressen.

Ich mußte akzeptieren, daß Erziehung entweder der herrschenden Ideologie dient, oder in Opposition zu ihr steht. Gleichzeitig erkannte ich, daß das, was ich befreiende Erziehung genannt hatte, nicht alleine der Motor sozialer Veränderung sein kann. Erziehung ist immer das Opfer ökonomischer, politischer und ideologischer Beschränkung. Aber genau deshalb ist sie auch wirkungsvoll. Die Aufgabe des Erziehers als Politiker ist, zu unterscheiden zwischen dem, was in und durch Erziehung und was nur durch allgemeinen politischen Kampf erreicht werden kann. Als ich im chilenischen Exil über meine früheren Erfahrungen nachdachte, wurde mir diese Aufgabe klar, und ich schrieb die Pädagogik der Unterdrückten. Das Buch serviert kein Modell, kein Rezept oder allgemeingültige Vorschläge. Es muß in jedem neuen Kontext neu entwickelt werden. Aber es ist inzwischen - indem es, wie die meisten Bücher, eine gewisse Autonomie über seinen Autor erlangt hat - in achtzehn Sprachen übersetzt worden und in der ganzen Welt verbreitet.

In der Pädagogik der Unterdrückten habe ich versucht, die besonderen Umstände zu analysieren, in denen die Unterdrückten als Kollektiv oder soziale Klasse zu einer bestimmten Interpretation ihrer Realität gelangen. Auch heute ist das Buch immer noch eine Herausforderung für seine Leser, und ich möchte hinzufügen, daß das für mich kein Anlaß zur Eitelkeit ist, sondern zur Freude. Außerdem hat es in mir ein Gefühl der Verantwortung geweckt, nachdem ich von jungen Revolutionären aus Nicaragua, Mittelamerika, Asien und Afrika gehört habe, die gelitten haben, gefoltert, umgebracht oder gefangen gehalten werden, nur weil sie dieses Buch gelesen haben.

Ich möchte betonen, daß Erziehung, auch wenn sie nicht der Motor der Revolution ist, für den revolutionären Prozeß doch wesentlich ist; die Revolution selbst ist eine erzieherische Erfahrung, die das Individuum formt. Revolutionsführer müssen das begreifen und dürfen die beiden Elemente nicht voneinander trennen. Linke Politiker - im Gegensatz zu ihrem dialektischen Denken - meinen oft, daß Erziehung erst nach einem Machtwechsel geändert zu werden braucht.

Das ist offenbar ein wesentliches Problem aller Revolutionen.

Ja, aber was ich sagen will, ist, daß revolutionäre Erziehungspraxis oft mit Unterricht verwechselt wird, und ich spreche hier nicht von Unterricht. Nehmen Sie zum Beispiel die Beziehung zwischen den Anführern einer Revolution und den Volksmassen. Die Aufgabe der Führung ist es, sich in enger Beziehung zu den Massen authentisch zu machen als Führung. Diese Suche nach Authentizität zum Beispiel ist auch ein pädagogischer Akt. Es gibt bei manchen Revolutionsführern so eine Naivität - nicht bei Fidel Castro, Guevara oder Amilcar Cabral -, einen Glauben, daß der erzieherische Charakter revolutionärer Praxis Unterricht heißt. Das ist falsch! Veränderungen im Unterricht kommen mit dem Besitz der Macht, die Pädagogik der Revolution aber ist verkörpert in revolutionärer Praxis selbst. Alles, was man im Laufe des Kampfes um die Macht an neuer Pädagogik gelernt hat, sollte von evolutionären Erziehern danach umgesetzt werden. Sie aber tendieren dazu, die traditionellen und autoritären Methoden der alten Gesellschaft zu wiederholen. Revolutionsführer müssen begreifen, daß eine Trennung zwischen Politik und Erziehung nicht existiert.

Was Sie hiermit ansprechen, scheint mir, ist die schwierige Wahrnehmung der Praxis, der Einheit zwischen Theorie und Praxis. Wie hat dieses Konzept - so wie Sie es aufgefaßt haben - die Revolutionen zum Beispiel in Nicaragua, Afrika und Chile beeinflußt, wo ja mit Ihrer Methode der Alphabetisierung gearbeitet wurde?

Wenn Sie mich fragen würden: „Paulo, glaubst du, daß deine Ideen im Prozeß der revolutionären Umwälzungen in Nicaragua und Grenada und in den darauffolgenden Institutionen dieser Länder fundamental wichtig gewesen sind, oder daß du als Erzieher und Politiker für die neuen Institutionen in den afrikanischen Staaten, die sich aus portugiesischer Herrschaft befreiten, von fundamentaler Wichtigkeit warst?“, dann wäre meine Antwort: Nein.

Darin liegt keine falsche Bescheidenheit. Denn es stimmt wiederum auch nicht, daß ich keinerlei Spuren in den Kämpfen dieser Menschen hinterlassen hätte. Man muß sehen, daß meine Rolle nicht fundamental war - sie war wichtig. Das meine ich strikt historisch.

Aus Berichten weiß ich, wie wichtig mein Buch in den Kämpfen in Nicaragua war. Auf einem Kongreß in Amsterdam wies der Führer der Bauern-Vereinigung von Nicaragua auf die große Bedeutung hin, die das Buch Die Pädagogik der Unterdrückten gehabt hat. Er sagte zu mir: „Deine Präsenz, deine Stimme war unter uns bedeutender, als du glaubst.“ (...)

Es gab, wie Sie sagen, einen wichtigen Bruch in Ihrem Leben, nämlich im chilenischen Exil nach dem Militärputsch in Brasilien von 1964. Vor Ihrem Exil beeinflußte Ihre Methode der Alphabetisierung die Kämpfe der Volksmassen gegen die etablierte soziale Ordnung in Basilien. Aber in Guinea-Bissao und Nicaragua wurde sie von denen angewandt, die bereits an der Macht waren. Welchen Unterschied machte das in Ihrer Pädagogik?

Einige meiner Kritiker sagen, daß meine Pädagogik nur dort funktioniert, wo bereits eine Revolution stattgefunden hat. Andere behaupten das genaue Gegenteil, daß sie also nach einer Revolution nicht mehr funktioniert, einfach weil man sie nicht mehr braucht. Ich bin da anderer Ansicht. Meiner Meinung nach ist das genau wieder diese falsche Trennung von Erziehung und Revolution. In einer bourgeoisen Klassengesellschaft wie in Brasilien ist die Frage: In welchem Maße schafft der kapitalistische Prozeß der Modernisierung politische Räume, die nicht unter Kontrolle der herrschenden Klasse stehen? Diese Freiräume existieren: in der Öffentlichkeit, in Schulen, Universitäten, in Volksorganisationen, in Mütter- und Mietervereinen. Die Aufgabe des revolutionären Erziehers ist, diese Freiräume zu erkennen und zu nutzen und auf diese Weise die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft mitherbeizuführen. In diesem Sinne ist meiner Pädagogik gleich wirksam in vor- und nachrevolutionären Gesellschaften.

Aber eine revolutionäre Gesellschaft verändert sich nicht automatisch. Die Erlangung der Macht heißt nicht, daß die neue Gesellschaft schon angebrochen ist. Die Gesellschaft tritt dann erst ein in den Prozeß der Veränderung, der während des revolutionären Kampfes angefangen hat. Das Problem dieser Transformationsperiode ist, daß selbst revolutionäre Erzieher zutiefst geprägt sind von ihren früheren Erfahrungen; sie sind zwischen ihrem Wunsch nach einer revolutionären Transformation und ihrer Bindung an traditionelle Pädagogik hin und hergerissen. Und so kommt es, daß zwar der Inhalt der Erziehung sich geändert hat, sie aber in den alten Formen vermittelt wird. Während man vorher also eine Erziehung hatte, die autoritär das Wissen vermittelte, das den Interessen der Bourgeoisie nützte, hat man jetzt eine autoritäre Pädagogik, die das Wissen der Volksmassen vermittelt - so, als hätte die Methode nichts mit dem Inhalt zu tun. Es ist aber grundsätzlich wichtig, daß Erziehung immer kritisch ist.

Können Sie zum Schluß vielleicht noch sagen, was Sie jetzt in Brasilien tun oder seit ihrer Rückkehr 1980 getan haben?

Zuerst möchte ich sagen, daß ich mich ständig, auch während der Zeit des Exils und als keine Hoffnung auf Rückkehr zu bestehen schien, mit Brasilien beschäftigt habe. Als ich hörte, es sei möglich zurückzukehren, bin ich sofort zusammen mit Eliza, meiner Frau, und den Kindern gekommen, um das Land wiederzusehen, den Geruch der Erde hier, den Anblick der Flüsse und das rundherum gesprochene Portugiesisch wiederzuerleben. Das war eine wunderbare Erfahrung.

Zum ersten Mal kam ich schon im August 1979 und ging dann zurück nach Europa, um alles für eine endgültige Rückkehr vorzubereiten. Ich hätte es nicht richtig gefunden, in Europa alles stehen und liegen zu lassen. So kamen wir also im Juni 1980 zurück und das bedeutete für mich noch einmal in die Lehre zu gehen. Ich lernte neu, entdeckte Brasilien von neuem. Es war ja klar, daß das Land nicht einfach stehengeblieben war und 16 Jahre lang auf meine Rückkehr aus dem Exil gewartet hatte.

Zuallererst brauchte ich eine neue Begegnung mit meinem Land, ein Überdenken, und so habe ich eine Art Pilgerfahrt durch Brasilien gemacht. Eingeladen von Studenten, Lehrern und Volksorganisationen habe ich meine Arbeit an der Katholischen Universität von Sao Paulo aufgenommen, die mich mit offenen Armen empfangen hatte, und dann auch an der Unicamp-Universität. Ich nahm an Konferenzen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene teil, reiste ins Ausland und unterrichtete an Universitäten in Europa, Nodamerika und Lateinamerika. Ich las alte Texte noch einmal und neue brasilianische Arbeiten, die ich noch nicht kannte. Und das erste Mal in meinem Leben kriegte ich mit politischer Parteiarbeit zu tun, als militantes und Gründungsmitglied der PT, der Arbeiterpartei. Ich entschied mich für diese Partei, weil ihr politischer Traum auch meiner ist, und weil sie von unten kommt, aus der Schicht der Industrie- und Landarbeiter; mit ihnen arbeiten viele Intellektuelle, die sich ebenfalls für diesen Kampf entschieden haben.

Die ganze Zeit habe ich auch geschrieben, obwohl mich der Tod meiner Frau in einen Zustand des Schocks und der Verzweiflung gestürzt hatte. Seitdem ist ein Jahr vergangen, und inzwischen habe ich wieder geheiratet, begonnen, wieder zu schreiben und zu unterrichten, in Massachusetts und Kalifornien. Ich bin sehr glücklich, hier zu leben und mit verschiedenen Gruppen und öffentlichen Institutionen, die in der Volkserziehung arbeiten, zusammenzuarbeiten. Diese Arbeit schafft mir große Befriedigung. Und obwohl ich ein schlechtes Gewissen habe, da ich nicht so viel tue, wie ich tun könnte, so ist das doch wenigstens das nimmermüde Gewissen von jemandem, der schon Einiges erreicht hat und immer noch mehr erreichen möchte. Interview gekürzt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen