Ich war nur Fan

■ Werner Pieper unterhielt sich mit Chris Strachwitz, dem Gründer des Blues- und Ethno-Musiklabels „Arhoolie“

Werner Pieper: Ich weiß nicht, ob es ein Gerücht ist: Trifft es zu, daß Sie ein Nachkomme von Herrn von Bismarck sind?

Chris Strachwitz: Na, ja, Cousins, long distance - die Schwiegermutter meiner Mutter ist mit ihm verwandt.

Also keine direkte Verwandtschaft.

Nein, das hat Lippmann oder Rau dem 'Spiegel‘ mal gesteckt, aber es stimmt so leider nicht. Wir sind nur indirekt verwandt.

Aber aus Deutschland kommen Sie. Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an Ihre Zeit dort?

Oh, ja, ganz klar. Ich bin ja in Niederschlesien aufgewachsen - zwischen der Neiße und der Oder. Das Dorf hieß Großreichenau, es lag zwischen Sagan und Naumburg. Ich weiß jetzt nicht mehr, wie es heißt, jedenfalls in dieser Gegend - auf einem Gut.

Sie haben schon während der Zeit, als Sie noch in Deutschland bzw. in Schweden wohnten, Musik gehört, die für Deutschland nicht üblich war?

Na, ja, in den zwei Jahren, ehe wir hierher kamen, zwischen dem Ende des Krieges und 1947, habe ich natürlich AFN gehört, American Forces Network, und auch den British Forces Network. Das war eine ganz neue Welt - Tommy Dorseys Boogie Woogie und Lionel Hamptons Hey Babariba also, das werde ich nie vergessen, das habe ich damals zum ersten Mal gehört. Die Radiosender

Wie hat sich Ihr Musikgeschmack entwickelt, war es von Anfang an der Blues, der Sie faszinierte?

Nein, nein, das war nicht das erste. Es war erst mal die Hillbilly Music, die ich gehört habe, das kam im Radio. Ich bin sofort, kurz nachdem wir hier ankamen, auf eine Privatschule geschickt worden, in der Nähe von Santa Barbara, und da hörte ich ganz klar XERB. Das hatte einen sehr starken Sender in Rosarito Beach, gerade südlich der Grenze, südlich von Tijuana. Das war eine der vielen Border Stations, die sich überall entlang der Grenze befanden... Das ist eine herrlich lange Geschichte, da könnte ich richtig ganz hineingehen, aber ich bin jedenfalls sehr von dieser Border Station beeinflußt worden. Die hatten damals Programme, die fünfzehn Minuten lang nur die Maddox Brothers and Rose oder eine Viertelstunde Bob Wills and his Texas Playboys, T.Texas Tyler usw. brachten.

Das alles war noch in der Rolle des Konsumenten...

Ja, ganz und gar. Ich war nur Fan, damals habe ich gar nicht daran gedacht, daß man sich das Leben damit verdienen könnte. Ein Freund und ich haben uns mal beim XERB-Sender gemeldet, ich wollte unbedingt da ein DJ werden, da haben wir auch an die geschrieben. Wir haben auch immer Wünsche eingesandt, die sollten dies und jenes Stück mal wieder spielen - ich konnte mir ja keine Platten leisten, ich hatte nur ein paar, die kosteten damals so ungefähr einen Dollar das Stück, und ich kriegte ja nur ein Taschengeld von zwei Dollar die Woche, Platten waren eine wahnsinnig kostspielige Sache. Ich erinnere mich: Für eine Platte von T.Texas Tyler habe ich 79 Cents bezahlt. Ich aß keine Süßigkeiten, ich kaufte nur Schallplatten, jedenfalls haben wir an den Sender geschrieben, und die haben auch geantwortet, die sagten: „Ja, ja, es ist schön, von Ihnen zu hören, aber es ist eigentlich nicht möglich, hier Arbeit zu finden, wenn Sie nicht mexikanischer Staatsangehöriger sind.“

Erst als ich im College war, fing ich wieder an, ein bißchen Platten zu spielen, und da haben wir auch teilgenommen an so einem Sender im Pomona College. Dixieland war ja damals recht populär - wenn wir Partys machten, gab es ja noch keinen Rock'n Roll, jedenfalls kümmerte sich niemand darum, da haben wir halt Dixieland-Bands gehabt. Damals habe ich auch meine ersten veranstalterischen Erfahrungen gemacht. Wir hatten mal eine Halle gemietet, am Strand in der Nähe von Balboa, da hatte seine Band gespielt, und ich stand an der Tür und habe den Eintritt kassiert. Anfänge

Wie kamen Sie dann „ins Geschäft“?

Es fing so an, daß ich mit Leuten in England korrespondiert hatte, die kauften die alten 78er Platten, die es damals hier in Massen gab, ganz billig zu kaufen. So habe ich eigentlich erfahren, was da für gute Platten dabei waren, Bluessänger mit Gitarre und so weiter - Muddy Waters, Blues Singer with Guitar und Howling Wolf, Lightnin‘ Hopkins - und das Zeug kaufte ich dann also meistens so für 10 oder 20 Cents das Stück. Meistens mußte man gleich einen ganzen Stoß kaufen, das kostete schon einen Haufen Geld. Ich verdiente ja kein Geld. Nachdem ich in der Armee war, ging es mir schon ein bißchen besser, da kriegte ich von der Regierung etwas Unterstützung. Da fing das an, ich habe also 78er gekauft und an die Europäer wiederverkauft. Mit dem Geld habe ich mir das erste Tonbandgerät zugelegt. Dann habe ich die Reise gemacht mit Paul Olivier und seiner Frau, die habe ich in Memphis Tennessee getroffen, das war 1960. Ich hatte schon ein paar Aufnahmen gemacht, so wie Jesse Fuller und so ein paar Leute draußen in Fresno, 1960 glaube ich, als ich schon in der Schule lehrte, in Los Gatos...

Als Deutschlehrer?

Ja, man wollte mich vor allem, weil ich Deutsch sprach. Die deutsche Sprache war seit dem Krieg ja nicht sonderlich popuär. Als die Sputnik-Zeit begann, wollten viele wieder Deutsch lernen. Die Deutschen waren ja nicht sehr beliebt aber ich muß immer wieder sagen, daß ich nie irgendwelchen Haß gespürt habe, weder von den einfachen Amerikanern, noch von den vielen jüdischen Bekannten. Die waren immer nur fasziniert, es ist eigentlich eine tragische Sache, daß Leute, die nicht direkt etwas erlebt haben, es sich gar nicht vorstellen können - das heißt, für uns ist es natürlich ein Glück, daß es so ist, denn ich hatte eigentlich erwartet, daß die Leute mich beinahe steinigen würden. Nach dem Krieg kamen ja die Bilder heraus, was da in den Konzentrationslagern vorging. Paul Rubinstein, der Sohn von Artur Rubinstein, war in derselben Klasse mit mir und fragte mich ab und zu: „Hast du je Hitler mal gehört oder hast du ihn an der Ecke gesehen?“ und ich sagte, ich habe ihn nie gesehen, er war im Radio, aber das interessierte mich gar nicht.

1959 habe ich mich endlich entschlossen, eine Plattenfirma anzufangen. So fing es an: Damals wohnte meine ältere Schwester in Mexiko, und sie wollte ihr Auto dahin gefahren haben. Lightnin‘ Hopkins

Mein Freund Sam Charters hatte mir eine kleine Postkarte geschickt: „I found Lightnin‘ Hopkins.“ Lightnin‘ Hopkins war mein Idol, seine Musik sagte mir mehr als je was anderes - und er hatte ihn gefunden! Da habe ich also meine erste Pilgerfahrt gemacht, 1959, nach Houston, Texas, um Lightnin‘ Hopkins zu besuchen. Das habe ich auch geschafft, aber natürlich noch gar nicht daran gedacht, ihn aufzunehmen. Ich wollte ihn einfach nur hören. Was ich da hörte, hat mich so beeindruckt, es war unglaublich, das hatte ich noch nie erlebt. Ich habe schon hier draußen Blues gehört, aber nie so etwas Persönliches wie den Lightnin‘ Hopkins. Er saß da in der Kneipe, nicht wahr, am Nachmittag hatte ich ihn getroffen, dann ging ich in die Kneipe, wo er spielte. Da saß er, und ich werde es nie vergessen, er guckte in unsere Richtung, und er sang so ein Lied „I'm aching all over, I believe I got the pneumonia this time“, und dann sang er plötzlich „This man came all the way from California just to hear Poor Ligthnin‘ play.“ Das sagte er mir und den paar Leuten, die noch in der Kneipe saßen. Das war ein richtiger Folk-Poet, er improvisierte...

Das ist in Afrika auch gang und gäbe, daß die Musiker die Leute, die ihnen Geld geben, besingen. Der Musiker kriegt ja nicht das Geld vom Ticket, sondern, wenn jemandem eine Passage gefällt, geht man hin und gibt ihm Geld, oder wenn er eine Kora spielt, steckt man es ins Instrument, und die nächste Strophe singt er dann über den Sponsor, deswegen muß man immer den Namen dazu sagen.

Aha. Also im deutsch- oder englischsprachigen Raum hatte ich so etwas noch nicht erlebt, seitdem habe ich das auch wie Sie in Afrika - in Mexiko gesehen, Calypso ist auch so ähnlich. Für mich war es das erste Mal, daß ich diese Art von Improvisation erlebte habe.

Das war meine Inspiration, und ich habe gewußt: Wenn ich eine Plattenfirma wollte, dann mußte ich versuchen, den Lightnin‘ Hopkins so aufzunehmen, wie er sich da anhörte in diesen Kneipen. Es ist mir leider nie gelungen, aber Arhoolie hat doch angefangen, mit einem Freund, der jetzt in der Library der Country Music Foundation in Nashville ist, der war auch ein Sammler damals. Dann sind wir irgendwie nach Dallas gekommen, und der hatte auch den Little Son Jackson gefunden, ich wußte nur, daß er Melville Jackson hieß, ich hatte da eine Platte, da stand es drunter... Die ersten Aufnahmen

Welche waren die ersten Aufnahmen, die Sie für Ihr Arhoolie Label gemacht haben?

Der erste war Mance Lipscombe, Big Joe Wiliams kam als nächster und dann Little Son Jackson.

Ab wann betrieben sie Arhoolie professionell?

Es ergab sich, daß mein Schulboss sagte: „Wir haben Probleme mit Ihrer Disziplin!“ „Das habe ich mir gedacht“, war meine Antwort, „es ist Zeit, daß ich gehe. Goodbye!“ Das war 1963. Ich mußte kämpfen, es war eine harte Zeit.

Wie kam dann die Verbindung zu Lippmann und Rau beziehungsweise dem American Folk Blues Festival zustande?

Die fingen damals gerade damit an. Sie haben versucht, Lightnin‘ Hopkins zu finden. Horst Lippmann hatte irgendwie erfahren, daß ich mit Lightnin‘ Hopkins ganz gut bekannt wäre, und irgendwie haben sie, glaube ich, von Lightnin‘ Hopkins gehört, daß er nur kommen würde, wenn ich mit ihm fliege. Da haben wir uns dann in Houston, Texas, getroffen. Lightnin‘ wollte ja nicht fliegen, und besonders nicht so einen langen Flug. Er war erst ein paar Mal geflogen, aber da hat er sich meistens ganz betrunken, und so hat er das Fliegen irgendwo nicht so gut vertragen können. Wir trafen uns jedenfalls in Houston, und ich fand es natürlich herrlich, mal wieder nach Deutschland zu kommen, und dann habe ich Lightnin‘ Hopkins irgendwie überredet, das zu machen. Das war 1964, glaube ich. Aber das Merkwürdigste war: Der Tag vorher ist für mich ein sehr wichtiger Tag geworden. Am Abend bevor ich abflog hat mich ein Freund hier angerufen. Ed Denson, und der sagte: „Eh, hast du noch dein Tonbandgerät?“ Ich sagte ja, und er: „Also wir müßen unbedingt eine Aufnahme machen, in zwei Wochen ist dieser Friedensmarsch, und diese Gruppe hier hat dieses Lied, das müssen wir auf 'ner Platte haben in zwei Wochen, kannst du die aufnehmen?“ Ich sage: „Morgen fliege ich nach Europa mit Lightnin‘ Hopkins und Big Mama Thornton, und - naja, ich weiß nicht, aber bring sie mal her.“ Dann hat er sie zu mir in mein Haus gebracht, und ich habe ein Mikrophon von der Decke gehängt und sagte: „Jetzt spielt mal schön.“ Die spielten One two, three, four, what are we fighting for, next stop is Vietnam, das war Fixing the rag: Ich dachte, das war ein ganz merkwürdiges Lied, sie haben auch noch andere gesungen. Und wie sie rausgingen aus der Tür, da fragten sie mich: „Was sind wir dir schuldig für das Tonband?“, und ich sagte: „Ihr schuldet mir nichts“, aber da habe ich mich irgendwie erinnert an einen Mann, den ich in Louisiana getroffen hatte, Eddie Shuler, der machte Gold Band Records, macht er immer noch, der hat mir gesagt, „was willst du denn mit deren Tonbändern. Get their songs.“ „Ja, was denn, ich habe doch den Song.“ - „Nee, get that Copyright!“, sagte ich. „Was is 'n das, habe ich keine Ahnung von.“ Aber das habe ich so langsam gelernt, was das ist. Er sagte: „Wenn Frank Sinatra mal ein Stück bringt, was du da aufgenommen hast, dann kannst du Millionär werden.“ Okay, also, ich habe dem Country Joe McDonald gesagt: „Gebt mir mal das Copyright von dem Song, ich will euer Publisher, also Verleger, sein.“

Galt diese Vertragsklausel nicht auch für „Ihre“ anderen Musiker? Das ist heutzutage doch allseits üblich, ja häufig eine Bedingung der Plattenfirmen.

Die sagten: „Ja, sure“, und dann ist das eben durch den Woodstock-Film ein großer Song geworden. Mit dem Lied haben wir das Gebäude hier gekauft. Als das Geld anfing hereinzurollen, da haben wir es uns geteilt, ich habe die Hälfte an Joe Mc Donald gegeben. Wie die ersten 20.000 oder 15.000 Dollar kamen, da hab‘ ich die für dieses Gebäude eingezahlt. Das war schon was. TexMex

Der Blues war Ihre große Liebe, aber in den vergangenen Jahren haben sie sich vor allem durch TexMex und Bordermusic einen Namen gemacht. Clifton Chenier, Santiago und Flaco Jiminez, die Mendoza Schwestern, sind spätestens seit Toot Toot auch in Europa ein Begriff.

Oh, diese Musik hörte ich schon zu meiner High School Zeit im Radio. Ich liebte sie. Es muß auch Santiago Jiminez dabei gewesen sein, denn ich erinnere mich, Akkordeon gehört zu haben, es war einfacher, mexikanische Musik zu finden als Bluesmusik. Man fängt mit einem Namen an, und alles andere ergibt sich wie von allein. Wenn ich so Musik höre, die mich begeistert, dann bekomme ich missionarische Gefühle. Ich will, daß auch andere Menschen diese Musik hören können. So war es auch mit dieser mexikanischen Musik. Schlußendlich verkaufte sie sich sogar besser als Country Blues. Die meisten LPs verkaufe ich an Liebhaber rund um die Erde, für mexikanische Corridos undsoweiter gibt es hier auch noch einen eigenen Markt.

Wie groß ist Ihr Unternehmen? Wieviele Angestellte beschäftigen Sie?

Arhoolie records ist eigentlich eine Ein-Mann-Firma. Manchmal helfen Leute mit, zum Beispiel in den siebziger Jahren, als wir LKW-Ladungen nach Japan verschifften. Aber meistens bin ich es allein, mit einer Hilfe fürs Rechnungsschreiben, und manchmal auch fürs packen, meistens packe ich die Pakete gerne selber, es sind die einzigen Leibesübungen, zu denen ich komme.

Haben Sie mal irgendwelche Verbindungen mit Rock'n-Roll -Musik gehabt?

Eigentlich nicht, das hat mich eigentlich nicht interessiert. Ich meine, Leute wie Joe McDonald, aber so richtig Rock'n Roll, nee, das gefiel mir eigentlich nie ... Ich kannte Michael Bloomfield undsofort, aber die Musik hat mir nicht gefallen.

Und diese englischen Bluesgruppen, die es Ende der 60er gab?

Die gefielen mir eigentlich auch nicht. Ich war ja wahrscheinlich sehr gegen Nachahmer, ich wollte nur das Original, nicht wahr. Mir gefielen auch nicht so diese Japaner, die den Dixieland, diese New Orleans Gruppen, so nachmachten - obwohl - ich meine, wenn ich blind gewesen wäre, hier waren sie mal in San Fransisco, also die spielten jede Note so wie George Lewis, auch jede falsche unglaublich.

Die Zeit für Blues Musik scheint vorüber zu sein. Nicht nur, weil die alten Originale von uns gegangen sind. Schwarze Musik hat eine so ungeheure Entwicklung durchgemacht, sie hat sich mehr und schneller entwickelt als jede andere Musik, die ich kenne.

Ich kannte ja noch die alten Originale. Musiker heute können alte Stücke oft technisch besser spielen, aber es fehlt ihnen das Gefühl. Zumindest kann ich es nicht mehr heraushören. Für mich wird es nie wieder Jungs wie Sonny Boy Williamson oder Lightnin‘ Hopkins oder Mance Lipscombe oder Fred McDowell geben. Sie waren Produkt ihrer Zeit, sie waren zu ihren Glanzzeiten auch Sänger für ihre eigene Community, ihre eigenen Leute. Aber vielleicht hing das auch mit meiner persönlichen Situation zusammen. Ich war doch recht einsam, als ich in die Staaten kam.

Heute höre ich auch fröhliche Musik, mexikanische Polkas und sowas. Neulich habe ich in München auf der Straße ein Trio mit Akkordeon gehört. Ich habe sie angesprochen, aber leider haben mir die Musiker nie ein Tonband geschickt. Das war Musik, die mir gefallen hat.

Hoffen wir, daß jene Münchner dieses Interview lesen und sich melden. - Herr Strachwitz, besten Dank für Ihre Worte und Taten.

Gut , dann gehen wir jetzt mexikanisch essen.

Stark gekürzter Vorabdruck aus dem Buch WeltBeat, dem Ja-Buch fürs globale Ohr. Hrsg. von Jean Trouillet und Werner Pieper. Der grüne Zweig 132