Eine Pleite mit der Plage

Die Volkszählungsergebnisse sind unbrauchbar, stellen die statistischen Landesämter nun nach dem Ende der Volksaushorchung fest / Zwischen zehn und 70 Prozent liegt die Quote der Falschangaben bei den ausgefüllten Bögen / Morgen stellt das Statistische Bundeamt die Bilanz einer Pleite vor  ■  Aus Stuttgart Dietrich Willier

Regierungen ausnahmslos, Parteien, die das demokratische im Namen führen sowieso, Kirchen, und Legionen öffentlich bekannter Persönlichkeiten hatten im vergangenen Frühjahr zur Volkszählung aufgerufen. Gemeindeverwaltungen wurden umgekrempelt, Gebäude gekauft oder angemietet, eine halbe Million Zähler war ausgeschwärmt, Volkes Daten zu sammeln. Doppelt so teuer wie ursprünglich geplant ist das Mammutzählwerk selbst nach offiziellen Angaben geworden. Die tatsächlichen Kosten dürften weit über den 630 Millionen Mark liegen, die der Deutsche Städtetag jetzt errechnet hat. Von den elf Mark, die die Volkszählung jeden Bundesbürger gekostet hat, könnten alle Sozialämter dieser Republik gut bestückt werden. Kein Mittel war zu plump, Gehorsam einzufordern, Parteitage der Grünen wurden verboten, Versammlungen der Volkszählungsgegner observiert und gesprengt. Seit 18 Monaten ist das Land tausendfach überzogen von Zwangs- und Bußgeldforderungen, von Ordnungsstrafen und Strafverfahren, allein in Baden -Württemberg sind noch immer 37 Personen in der Terrorkartei APIS gespeichert.

Seit 18 Monaten wird gezählt, verglichen und abgeglichen. Gestern resümierten die statistischen Landesämter und das Wiesbadener Bundesamt - Zeit für ein Fazit!

Der harte Boykott, die Totalverweigerung - zugegeben - ist weitgehend gescheitert. Knapp ein Prozent im Bundesdurchschnitt war letztlich bis zum Ende standhaft. Doch der weiche Boykott, die klammheimliche Unbotmäßigkeit, die gezielten oder zufälligen Fehl- oder Falschangaben, machen das Ergebnis der Volkszählung - selbst an den Vorgaben der Statistiker gemessen - zur Farce. Liege die Akzeptanz unter 98 Prozent, so vor der Zählung Baden -Württembergs Oberstatistiker Max Wingen, könnten die Daten gleich per Mikrozensus erhoben werden. Die Menge verwertbarer Daten liegt jetzt weit darunter.

Der Hamburger Informatiker Klaus Brunnstein beziffert die statistische Ausfallquote aus Boykott, fehlenden oder Falschangaben, und aus der achzehnmonatigen Dauer der Erhebung auf mindestens 25 Prozent.

Belegt wird die Hochrechnung durch eine Fragebogenaktion, die die Grünen quer durch die Republik starteten, als im Frühjahr der Chef des statistischen Bundesamtes der Bevölkerung attestierte, sie habe „ihre politische Reifeprüfung glänzend bestanden“. Über 600 Boykottinitiativen und Grüne Ratsfraktionen schickten die Fragebögen zurück und gaben damit einen Überblick darüber, wieviele Personen sich am Boykott beteiligt, wieviele Zwangs - oder Bußgelder verhängt, was davon eingetrieben wurde und wieviele Bögen nach Schätzungen oder Auskunft der Behörden fehlerhaft oder unvollständig ausgefüllt waren.

Das Ergebnis zeigt die Volkszählung als Fiasko. Zwangs oder Bußgeldbescheide wurden zwar massenhaft ausgeteilt, in den seltensten Fällen aber bezahlt. Die meisten Verfahren sind längst eingestellt und die säumige Klientel, so zum Beispiel der Hamburger Gerichtsvollzieher, ist „meist im Urlaub oder längst unbekannt verzogen“. Der Rücklauf ausgefüllter Volkszählungsbögen ist, je nach Gemeinde, zwischen 10 und 70 Prozent fehlerhaft oder unvollständig gewesen. In Köln sind seit Abschluß der Zählung knapp zehn Prozent, in Bremen fünf Prozent, in Hamburg und Berlin zigtausende überhaupt nicht gezählt.

Zähler, Erhebungsstellenleiter und selbst Mitarbeiter von statistischen Landesämtern bestätigen die Umfrage der Grünen. Für den vierten Erhebungsstellenleiter Wiesbadens drei andere wurden versetzt oder erkrankten - war die Hälfte aller postalisch zurückgesandten Bögen nicht „plausibel“. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Volkszählung bestehe eine erhebliche Diskrepanz. In Pinneberg waren 20 Prozent der Rückläufe fehlerhaft, auf eine Rückfrage wie in anderen Gemeinden wurde verzichtet, persönliche Daten wurden statt dessen aus Melderegistern komplettiert. In der 7.000-Seelen -Gemeinde Regesbostel in Niedersachsen gab es zwar nur 200 Boykotteure, 50 Prozent aller Volkszählungsbögen waren aber nach Auskunft des Gemeindedirektors unvollständig und fehlerhaft. Die Hälfte aller Wuppertaler Ergebnisse stammen aus den Registern der Einwohnermeldeämtern, und in Stuttgart, kritisierte die baden-württembergische Datenschutzbeauftragte, wurden zwar mehr Daten als Einwohner erfaßt, gleichwohl sind nach offiziellen Angaben 20 Prozent fehlerhaft. In Köln sind 20 Prozent der Bögen unvollständig und zehn Prozent fehlen vollständig. Der Nauheimer Bürgermeister klagt über 25 Prozent, und die Waldshuter Erhebungsstelle über 35 Prozent fehlerhaft ausgefüllte Volkszählungsbögen. In der niedersächsischen Gemeinde Ottersberg hatte man nach dem ersten fehlerhaften Rücklauf gleich ganz auf eine weitere Kontrolle verzichtet; „wir wären ja nicht fertiggeworden“, entschuldigt sich der Zählstellenleiter - und so hatte man den Rest eben selbst ausgefüllt. Über das niedersächsische Ergebnis, da ist er sich sicher, wird man auch vom statistischen Landesamt keine ehrliche Antwort bekommen.

Auffällig für Erhebungsstellen und statistische Landesämter, war offenbar nicht einmal, wenn Haustiere, Kinderspielzeug oder Persöhnlichkeiten der klassischen Literatur als Wohngenossen vermeldet wurden. Nach Toten oder längst Ausgewanderten dagegen wurde weiter gefahndet, Babys wurden mit Zwangsgeldbescheiden drangsaliert. „Volkszählung, das ist eine Plage“, lacht der Erhebungsstellenleiter von Lörrach: Fehler könnten überhaupt nicht mehr festgestellt werden, „selbst das Formular war mißverständlich“, - „aber nennen Sie meinen Namen nicht, sonst bringen sie mich in Teufels Küche, hier unten, im letzten Winkel der Republik.“ „Volkszählung - nie wieder“, stöhnt auch Stuttgarts Oberbürgermeister Rommel. Der Statistiker von Paderborn sieht die Crux schon in der „unterschiedlichen Qualität der Zähler“, und wer die 70 Prozent fehlerhaften Bögen in Freiburg oder Erding bei München verbessert hat, weiß niemand mehr zu sagen.

Der Jammer nimmt kein Ende, und irdendwann, fordert der Zählstellenleiter aus Paderborn, muß auch mal Schluß sein, „man kann doch die Bürger nicht kriminalisieren“.

Doch selbst die bescheidene Ausbeute der Volkszählung sei gegen weitere Unbill nicht gefeit, meint Informatik -Professor Brunnstein. Bereits im vergangenen Jahr war ihm ein Code zu den Volkszählungsdaten einer „westdeutschen Großstadt“ zugespielt worden. Offen und abrufbar lagen die Daten im Großrechner gespeichert: Er warte nur noch darauf, „daß Hacker jetzt in den Datenlagern der Volkszählung jagen gehen“.

Erfreulich, so Brunnstein, sei ja, daß Daten beliebig falsch sein könnten, ohne Schaden zu produzieren. Wenn nur zahlreiche Politiker nicht schon angedroht hätten, mit dem erworbenen Datensalat auch noch zu planen.

Statistische Landesämter scheinen Brunnsteins Befürchtungen zu teilen. In den kommenden Monaten soll das erworbene Material „plausibilisiert“ werden. Aus den Arbeitsstättenbögen sollen Rückschlüsse auf die tatsächliche Arbeitnehmerstruktur gezogen werden, und was sonst nicht ins Weltbild paßt, wird solange mit bestehenden „Strukturdaten“, „Grunddaten“ und mit den bestehenden „Mikrozensi“ und der alten Volkszählung vermengt, bis es stimmt. Eine Wiederholungsbefragung bei einem Promille der Bevölkerung soll bis Ende kommenden Jahres abgeschlossen sein.

Auch Bayern scheint von dem Ergebnis der Volkszählung nicht sehr überzeugt zu sein: Dort macht das Wohnungs- und Bauministerium derzeit eine Bestandsaufnahme mit teilweise denselben Fragen, die vor einem Jahr im Volkszählungsbogen zu finden waren.