Scheideweg

■ Wird Berlin zum grundrechtsfreien Raum?

K O M M E N T A R

Verfassungsschutzskandal? Nein! Die Skandalgeschichte des Berliner Verfassungsschutzes hat jetzt ein Ende erreicht, ein Ende, an dem eine Krise zwischen Staat und Demokratie beginnt. Die Krise ist da, ganz gleich, ob die Mittel der Berliner Politik ausreichen, darauf noch wirksam zu reagieren. Diese These entspringt nicht aus der Empörung. Es ist auch keine überzogene politisch motivierte Anklage, sondern es geht um die nüchterne Feststellung eines Sachverhaltes. Die Schadensbilanz in Sachen Rechtstaat, die der Berliner Verfassungsschutz verursacht hat, ging bekanntlich bis gestern schon über alle Grenzen aller denkbaren freiheitlich demokratischen Grundordnungen. Aber: Das Unterwandern, das Abhören einer Zeitung - wie es heißt „im Ganzen“ ist eine neue Qualität.

Bis gestern war es schon gerichtsnotorisch: Der Berliner Verfassungsschutz hat mittels agent provokateurs Straftaten initiiert: Fall Peter Urbach. Er war zumindest an der Planung eines Mordes beteiligt: Fall Schmücker. Auf sein Konto kommen Vernichtung von Beweismitteln (das Verschwinden der Tatwaffe im Fall Schmücker) - eine organisierte Delinquenz, die offenbar eine unübersehbare Kette von Nachfolgedelikten erzeugte, von der Strafvereitlung bis zur Anstiftung zum Meineid. Eine Behörde existiert in dieser Stadt, die in ihren Haushalt Stillhalteprämien, sprich Zahlungen an Erpresser einplanen mußte, ohne daß die wechselnden Dienstherren bislang ernsthaft in Schwierigkeiten gerieten. Der Berliner Verfassungsschutz ist seit Jahren der größte rechtsfreie Raum in dieser Stadt. Allein, bislang stand der Kleinkrieg um die parlamentarische Kontrolle dieser Behörde auf der Tagesordnung. Bislang schien es „nur“ um Aufklärung eines aus dem Ruder gelaufenen Amtes zu gehen, um Aufklärung von Machenschaften provinzieller Mini-Bonds. Bei dem Unterwanderungsangriff auf die taz nun geht es zwar auch um Aufklärung, um schnelle und umfassende Aufklärung von vielen Fragen. Aber trotzdem sind sie sekundär. Der Verfassungsschutz muß nicht mehr nur kontrolliert werden, sonder spätestens seit gestern muß er politisch bekämpft werden. Denn seit gestern steht fest: Dieses Amt entzieht sich nicht nur demokratischen Kontrollen, sondern es greift die Kontrollinstanzen selbst an. Mit dieser Behörde steht Berlin am Scheideweg. Der eine Weg führt direkt zum dritten deutschen Staat, einem Staat, gemischt aus freier Marktwirtschaft und Staatssicherheit.

Ganz gleich, was der Verfassungsschutz in der taz ausgespäht haben kann, ganz gleich, ob er auf einem Haufen gestrigen Schnees sitzt - was hier über Jahre außer Kraft gesetzt wurde, das ist nicht weniger als das Institut des Redaktionsgeheimnisses. Ohne Redaktionsgeheimnis keine Pressefreiheit, ohne Pressefreiheit keine demokratische Öffentlichkeit. Banalitäten. Aber in diesem sich abzeichnenden dritten deutschen Staat muß - so scheint es genau um diese Banalitäten gekämpft werden. Es ist gleichgültig, ob die taz eine linksradikale Zeitung ist: Wenn die Berliner Zeitungen, die Berliner Parteien jetzt nicht politische Konsequenzen durchsetzen können, dann ist die Pressefreiheit nicht nur gefährdet. Sie ist schlicht eine Fiktion. Wenn es keine Konsequenzen gibt, wenn der verantwortliche Senator Kewenig jetzt nicht zum Rücktritt gezwungen wird, wenn nicht die verantwortlichen Verfassungsschützer jetzt aus dem Amt gejagt werden, dann sieht es künftig so aus: Die restliche Presse West-Berlins wird nur noch ein Redaktionsgeheimnis von Gnaden des Verfassungsschutzes besitzen. Damit beginnen sich die gesamten politischen Rangordnungen, von denen schließlich eine Demokratie lebt, umzudrehen. West-Berlin wird in Zukunft ein grundrechtsfreier Raum sein.

Wir wollen hier und heute den Rücktritt der politisch Verantwortlichen, der gefordert werden muß, nicht fordern. Wir erwarten vielmehr, daß das Parlament, daß die Presse begreift, wie schwer mit der taz ihre politischen Grundlagen selbst angegriffen sind. Und wenn das Demokratieverständnis als Quelle der Empörung womöglich nicht ausreichen sollte, dann muß hier in West-Berlin auch an etwas anderes erinnert werden: Was nützen die Zeremonien der Bundesbindung, wenn sich in dieser Stadt ein Staat im Staate entwickelt hat, der sich offenbar den totalitären Verfolgungswahn der Stasi auf der anderen Seite zum Vorbild genommen hat.

Klaus Hartung