Verfassungsschutz außer Kontrolle Operation „taz“ aufgeflogen

■ V-Leute bei der taz, Telefone abgehört, Post überwacht / Der Berliner Verfassungsschutz hat jahrelang Journalisten und Politiker ausspioniert / VS-Dossiers auch über Alternative Liste und SPD / Brief von SPD-Chef Momper an Diepgen brachte die Aktion ans Licht

Berlin (taz) - Der Berliner Verfassungsschutz hat die taz abgehört, ausgespäht und V-Leute bei ihr eingeschleust. Die neuen Informationen über die dubiosen Machenschaften des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz haben am Wochenende in der Öffentlichkeit für Furore gesorgt und einen in seinen Folgen noch nicht abschätzbaren politischen Skandal ausgelöst. Der Berliner SPD-Parteichef Walter Momper beschuldigt in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) den Verfassungsschutz (VS), jahrelang außer Journalisten auch Abgeordnete bespitzelt zu haben. Danach hat der Berliner Nachrichtendienst „jahrelang“ die taz „im ganzen überwacht“.

Detailliert werden in einer 14-seitigen Dokumentation als Anhang zu dem Schreiben „atemberaubende Sachverhalte“ (Momper) genannt. Neben „anderen nachrichtendienstlichen Mitteln“ haben auch V-Leute in der taz gearbeitet. Es gilt als sicher, daß die Telefone der taz abgehört wurden. Der Berliner 'Tagesspiegel‘ berichtet außerdem vom Einsatz von „Wanzen“. Zahlreiche Mitarbeiter der taz landeten in den Akten des Verfassungsschutzes. Detaillierte Angaben über den Zeitraum des Lauschangriffs auf die taz und die Überwachung durch Wanzen oder Richtmikrophone liegen bisher nicht vor. Aus dem Momper-Brief geht jedoch hervor, daß „die Beobachtung der taz als solcher“, so der Wortlaut, inzwischen „eingestellt wurde“. Die taz hat gestern Strafanzeige gegen den Berliner Verfassungsschutz und den verantwortlichen Innensenator Kewenig gestellt.

Auch die Berliner Alternative Liste (AL) ist nach diesen SPD-Informationen „in wichtigen Teilen, wenn nicht praktisch im ganzen“ (so Momper) auf die gleiche Weise überwacht worden. Der 'Spiegel‘ zitiert in seiner jüngsten Ausgabe Details des am 21.November an Diepgen übermittelten und bisher unveröffentlichten Momper-Schreibens.

Auch ein halbes Dutzend „SPD-Sonderberichte“ sind vom Nachrichtendienst angefertigt worden, davon einer erwiesenermaßen im „Auftrag“ der Senatskanzlei von Diepgen. Über eine Reihe von Abgeordneten lägen Observationsberichte, Aufzeichnungen und Daten vor. „Alle Mitglieder eines früheren Geschäftsführenden Landesvorstandes der Berliner SPD“, ein ehemaliger In nensenator eingeschlossen, seien gespeichert. Im übrigen, so heißt es in dem Momper-Brief, würde „die Tätigkeit einer großen Zahl von Journalisten“ - keineswegs nur von der taz beobachtet. Anderen Informationen zufolge begann die systematische Ausspähung der taz spätestens 1983 im Zusammenhang mit einer Demonstration für die Pressefreiheit nach der Verhaftung des Lokalredakteurs Benny Härlin.

Die Akte über den früheren taz-Journalisten Michael Sontheimer, der jetzt bei der 'Zeit‘ arbeitet, ist unlängst vernichtet worden, als die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) des Abgeordnetenhauses, in der die SPD mit zwei Abgeordneten vertreten war, Einsicht verlangte. Unter anderem wegen dieser Aktenvernichtung hatten am Donnerstag letzter Woche die beiden Sicherheitsexperten der SPD, Erich Pätzold und Hans-Georg Lorenz, ihre Mitgliedschaft in der PKK niedergelegt. Ihren Schritt begründeten sie damit, daß sie sich nicht länger als „Feigenblatt dafür hergeben“ wollten, daß in Berlin „die Freiheit zentimeterweise stirbt“. Der Rücktritt war eine Reaktion darauf, daß ihre Bemühungen, „Sauereien“ (Pätzold) des Verfassungschutzes aufzuklären, vom CDU-geführten Senat und von der CDU/FDP-Mehrheit in der Kommission ständig behindert worden seien. In dem Momper-Brief geht es auch um VS-Tätigkeiten in anderen Bereichen. Zum Skandal paßt es aus der Sicht der SPD, daß „seit Jahren“ ein „führender Vertreter einer zentralen Institution“ - gemeint ist ein Mitglied des Geschäftsführenden Landesvorstands des DGB ungehindert als Agent für den VS die Gewerkschaft ausspäht. Am Wochenende antwortete Diepgen dem SPD-Chef und bedauerte dessen „tiefgreifendes Mißtrauen über den VS“.

Heute beschäftigt sich der Innenausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses mit der Affäre. Diepgen kündigte an, daß Innensenator Kewenig dann einige der aufgeworfenen Fragen bereits beantworten werde.

mtm