Tunnelbau begann im Gefängnisklo

■ Aus der politischen Jugendbewegung der 70er in die Folterkeller / Die Türkischen Todeskandidaten von Kirsehir haben fast ein Drittel ihres Lebens im Gefängnis verbracht / In Alpträumen kommt die Folter

Vor mehr als zwei Monaten, in der Nacht zum 17. September, krochen sie unterhalb der Gefängnismauer von Kirsehir aus der Erde. Aus der Gefängnistoilette hatten 18 zum Tode verurteilte Häftlinge einen 130 Meter langen Tunnel gegraben. Fünf von ihnen sitzen heute in einem Büro der Bremer Grünen. Sie haben einen Hungerstreik begonnen, zur Unterstützung derjenigen, die noch in türkischen Gefängnissen sitzen und ebenfalls mit einem Hungerstreik ihre Haftbedingungen verbessern wollen. Alle fünf sind um die dreißig und haben die letzten acht oder neun Jahre in türkischen Gefängnissen verbracht. Als sie verhaftet wurden

-kurz vor oder nach dem Militärputsch von 1980 - waren sie Funktionäre der linken Jugend-und Gewerkschaftsbewegung in Adana. Sie gehörten der Organisation „Devrimci Yol“ (Revolutionärer Weg) an und bekennen sich auch noch heute dazu.

Hasim Aslan war Gründer der „Revolutionären Jugend“ in der Hafen-und Touristentadt Mersin, Adanas Nachbarstadt. Er war 19 Jahre alt, als er 1980 inhaftiert wurde. Von da an bis zum September dieses Jahres, war er fast ohne Unterbrechung in Haft. Stockschläge auf die Fußsohlen, Kreuzigen, Elektroschocks. Arslan hat die Foltermethoden der türkischen Militärgefängnisse erlitten. Er mußte mit ansehen, wie

einer seiner Genossen zu Tode gefoltert wurde.

Aslans Gesundheit ist seitdem ruiniert: Die zahlreichen, schlecht verheilten Rippenbrüche spürt er beim Atmen. Sein Magen ist nervös. Schlimmer sind jedoch die „seelischen Lasten“, wie er sagt: In seinen Alpträumen erlebt der Flüchtling, daß die Polizei ihn wieder ergreift. Dann erlebt er auch die Folter wieder im Traum und wacht schreiend auf. Er ist

erst 28 Jahre alt, sieht aber aus wie weit über 40.

Die fast neun Jahre seiner Gefangenschaft hat Hasim Aslan in verschiedenen Gefängnissen verbracht: In seiner Heimatstadt Mersin nahm er an einer Gefängnisrevolte teil und wurde deshalb nach Sinop verlegt. Die Prozesse gegen „Devrimci Yol“ in Adana und Mersin wurden 1986 abgeschlossen. 18 Angeklagte kamen nach dem Urteilsspruch ins Ge

fängnis von Kirsehir und wurden dort in eine Zelle gepfercht. Sie waren sämtlich zum Tode verurteilt worden.

An Flucht dachten sie deshalb von Anfang an. Fast sechs Monate lang gruben sie an ihrem Tunnel. Sie nahmen das Becken einer Toilette im Erdgeschoß hoch und gruben sich Nacht für Nacht weiter in die Tiefe. Tagsüber rückten sie das Klobecken wieder an seine Stelle. „Die Ar

beit war schwer und gefährlich“, berichtet der Flüchtling Erdal Aykas. „Der Sauerstoff im Tunnel war so knapp, daß man dort noch nicht mal ein Feuerzeug entzünden konnte. Wenn uns die Wächter bei der Arbeit im Tunnel erwischt hätten, hätten sie sofort geschossen“.

Welche Werkzeuge sie benutzten, welche Hilfe sie bekamen, wie sie es schafften, von ihrer Zelle unbemerkt in die Toilette zu kommen, das wollten die Entkommenen nicht verraten. Sie wollen ihre Helfer nicht gefährden und anderen Gefangen, die noch an Ausbruchplänen arbeiten, nicht schaden. Nur eins ist sicher: Sie hatten eine Kamera, mit der sie sich bei der Arbeit im Tunnel fotografierten. Und als sie endlich in die Freiheit gekrochen waren, wurden sie von ihren Genossen abgeholt, die Kleider zum Wechseln für sie bereithielten. Mit einer Videokamera nahmen sie auf, wie die 18 Todeskandidaten ihrem Henker entwischten.

Sechs von ihnen hat er inzwischen wieder. Auch drei „deutsche“ Türken, die Polizei der Fluchthilfe verdächtigt, sitzen im Gefängnis. Einer davon ist Ahmet Güler, Buchhändler aus Bremen.

Hasim Aslan, der entflohene Todeskandidat, will weiter kämpfen. „Hier in Europa will die die türkische Diktatur entlarven“, sagt er, „aber sobald es geht, will ich in die Türkei zurück“.

mw