Verfassungsentwurf: Noch nicht das letzte Wort

Eigentlich kann es nur besser werden. Als im vergangenen Jahr Moskauer Soziologen eine Umfrage unter den Abgeordneten des Stadtsowjets der Hauptstadt starteten, da stellte sich heraus, daß 97 Prozent von ihnen noch nie bei einer Sitzung im Auftrag ihrer Wähler aufgetreten waren. Und nur drei Prozent behaupteten von sich, daß sie regelmäßig ihre Wähler über die im Sowjet behandelten Fragen informierten.

Doch das soll jetzt alles anders werden - mit Hilfe der Verfassungsreform. Die Wähler sollen sich in den Sowjets wieder vertreten fühlen, von der lokalen Ebene mit ihren 52.000 Sowjets bis zum Obersten Sowjet in Moskau. Die Sowjets sollen klare Kompetenzen gegenüber der Exekutive besitzen. Der erste Schritt zu ihrer Stärkung ist die finanzielle Unabhängigkeit der Abgeordneten. War ihre Tätigkeit bislang ehrenamtlich, so sollen sie künftig ihr Gehalt auch während der Sitzungsperioden weiterbeziehen. Die Exekutivkomitees - also die Verwaltungsebene - werden künftig nicht mehr in die Arbeit der Sowjets hineinpfuschen dürfen, ihnen wohl aber rechenschaftspflichtig sein.

Um aus den bisherigen Abstimmungsmaschinen diskussionsfreudige Parlamente zu machen, wird abgespeckt: So werden auf der obersten Ebene die beiden Kammern (der direkt gewählte Unionssowjet und der Nationalitätensowjet, in dem die einzelnen Republiken vertreten sind) zusammen statt 1.500 nur noch 450 Mitglieder zählen. Statt zweier kurzer Sitzungen pro Jahr werden sie nun im Frühjahr und im Herbst jeweils zu drei- bis viermonatigen Beratungsperioden zusammentreten. Und: Der Oberste Sowjet bekommt größere Vollmachten. Es wird den Regierungschef sowie die Minister und die Staatskomitees wählen, es entscheidet über den Einsatz von Streitkräften. Und das nicht nur bei einem „Angriff auf die UdSSR“, sondern auch zum Zwecke brüderlicher Hilfe („zwischenstaatliche vertragliche Verpflichtungen zur Erhaltung des Friedens und der Sicherheit“).

Dafür soll (nach dem bisherigen Entwurf) das Präsidium des Obersten Sowjet das in der Diskussion umstrittenste Recht erhalten: den Kriegszustand wie den „inneren Ausnahmezustand“ zu erklären. Zu den „besonderen Verwaltungsmaßnahmen“, die es dann anordnen dürfte, gehört auch der Einsatz von Truppen des Innenministeriums in einzelnen Unionsrepubliken - wie gerade in Aserbeidjan geschehen.

Gewaltenteilung

Zur wirksamen Gewaltenteilung gehört auch das Verbot der bislang so beliebten Ämterhäufung. Niemand darf künftig mehr als zwei Räten gleichzeitig angehören. Regierungsmitglieder

-gleich auf welcher Ebene - dürfen nicht mehr Mitglieder der sie kontrollierenden Sowjets sein. Die Gretchenfrage bleibt jedoch: Wie hältst du's mit der Partei? Formell wird die KPdSU ihre Exklusivrolle bei der Aufstellung der Kandidaten einbüßen. Künftig wird jeder Teilnehmer einer Bezirkswahlversammlung das Recht haben, Kandidaten - sich selbst oder andere - vorzuschlagen. Allerdings: Ein bislang nicht näher definiertes „Wahlkomitee“ entscheidet über die endgültigen Kandidatenlisten.

Der Einfluß der Partei, zum Beispiel auf die Zusammensetzung des entscheidenden Obersten Sowjet, bleibt unklar. Zunächst wird - im kommenden Frühjahr - ein ganz neues höchstes Gremium entstehen, das seinerseits den Obersten Sowjet wählt: der „Kongreß der Volksdeputierten“, der in der Regel nur einmal jährlich tagt. Seine Zusammensetzung ist kompliziert. 750 Delegierte werden direkt in den Wahlkreisen gewählt, weitere 750 von den Nationalitäten in den Teilrepubliken, und schließlich kommen noch einmal 750 Vertreter der sogenannten „gesellschaftlichen Organisationen“ hinzu. Hier wird die Partei über eine eingebaute Mehrheit verfügen: Je 100 Delegierte dürfen die KP und die Gewerkschaften entsenden, der Jugendverband Komsomol noch einmal 75, usw. mit den parteiabhängigen Organisationen. Gerade noch 75 Sitze bleiben für die vielen mittlerweile entstandenen „informellen“ Gruppen. Die in einer Reihe von Einzelrepubliken, vor allem im Baltikum, gegründeten „Volksfronten“ sind dadurch ausgeschlossen, daß nur unionsweit existerende Gruppen zugelassen werden sollen. Und daß die „gesellschaftlichen Organisationen“ ihre Vertreter zwar auf Plenarversammlungen wählen können, es aber nicht müssen, sieht geradezu nach einem Schlupfloch für Parteigenossen aus, die auf keiner anderen Liste mehr unterzubringen sind.

Die 2.250 Volksdeputierten sollen dann aus ihrer Mitte den Obersten Sowjet mit seinen 450 Abgeordneten wählen. Da fragen sich manche (wie ein Leserbriefschreiber der 'Moskow News‘): „Wie sollen sie das bloß schaffen? Sie werden sich doch anfangs in den meisten Fällen nicht kennen.“ Die mögliche Antwort: Die Partei wird's schon richten. Selbst die vorgesehene Rotation - jeweils ein Fünftel der Abgeordneten muß jedes Jahr für Nachrücker Platz machen wird kaum ein Gegengewicht zum dominierenden Einfluß der Partei sein.

Besondere Sorge bereitet den um ihre Autonomie kämpfenden Nationalitäten ein Passus im vorliegenden Verfassungsentwurf: Der Kongreß der Volksdeputierten soll auch über eine mögliche „Veränderung der Staatsgrenzen und der Grenzen der Unionsrepubliken“ entscheiden. Keine Republik könnte dann mehr ihre Verhandlungsposition dadurch stärken, daß sie auf die bisher der Verfassungstheorie nach garantierte Austrittsmöglichkeit aus der Union hinweist.

Allmächtiger Präsident

Die Ämterhäufung für andere will Gorbatschow abschaffen für sich sich selbst führt er sie ein. Der Chef braucht die Macht, um die Macht der Partei gegenüber der Gesellschaft zurückzuschrauben. So heißt es. Zwar erwähnt der Verfassungsentwurf die von Gorbatschow angestrebte Personalunion zwischen Parteichef und Vorsitzendem des Obersten Sowjets nicht, doch das neue Amt ist ihm wie auf den Leib geschneidert. Dann ist er Staatsoberhaupt und leitet den Verteidigungsrat der UdSSR genauso wie alle Sitzungen des Kongresses der Volksdeputierten und beider Kammern des Obersten Sowjets. Er schlägt dem Obersten Sowjet den Ministerpräsidenten und die Kandidaten für andere hohe Ämter vor.

Rechtsreform

Und ein Verfassungsgericht? Das nicht, aber wenigstens ist ein neues „Komitee für Verfassungskontrolle“ vorgesehen. Der Kongreß der Volksdeputierten soll es auf 15 Jahre wählen, aus „Spezialisten für Politik und Recht“. Gemeinsam sollen sie die gesamte Gesetzgebung - der Union wie der Teilrepubliken - auf ihre Vereinbarkeit mit der Vefassung überprüfen können. Kein Wunder, daß da aus den einzelnen Republiken gefordert wird, sie auch proportional an diesem Komitee zu beteiligen. Was durchaus möglich wäre: Seine Mitgliederzahl entspricht exakt der Zahl der Sowjetrepubliken.

Die neue Vefassung soll auch der erste Schritt auf dem Weg zum Rechtsstaat werden. Die Unabhängigkeit der Richter von Partei und Staat soll dadurch gesichert werden, daß sie direkt auf Einwohnerversamlungen gewählt werden, RichterInnen für zehn Jahre, SchöffInnen für fünf Jahre. Bei Amtsverfehlungen können sie auch wieder abgewählt werden. Noch scheint der Verfassungsentwurf unausgereift, zu kompliziert, und er garantiert bei weitem noch kein wirksames gesellschaftliches Gegengewicht zur Vorherrschaft der Kommunistischen Partei und ihrer Organisationen. Ohne erkennbare Systematik werden radikaldemokratische Züge (Rotation, Abwählbarkeit) mit ständestaatlichen Aspekten (wie die von der Partei berufenen Abgeordneten) vermischt.

Ein großer Fortschritt in Richtung auf mehr Einfluß für die Basis sind dennoch die erweiterte Gewaltenteilung, der neue Wahlmodus (soweit er schon bekannt ist) sowie die rechtliche und finanzielle Absicherung der Parlamentarier. Allerdings zeigt gerade die noch fehlende Definition des „Wahlkomitees“, das die Listen aufstellt, wo die Achillesferse des ganzen Projektes liegt: in den Gesetzen und Verwaltungsbestimmungen, die das Ganze erst operabel machen werden. Und schließlich wird die Machtfülle des Vorsitzenden des Obersten Sowjet (de facto in Personalunion mit dem Parteichef) noch auf kräftigen Widerstand stoßen ganz unabhängig von der Person Gorbatschows und mitten durch die Gruppe der Unterstützer seiner Perstroika hindurch.

Barbara Kerneck/mr