ANIMALISCHES ÜBERLEBEN

■ Ein Brief aus dem Stammheimer Trakt

Ja, ich mußte mich in letzter Zeit viel mit der Situation hier auseinandersetzen, weil ich das so überhaupt noch nicht kannte: durchgängig im Trakt und zusammengerechnet etwa fünf Stunden im Monat, wo ich reden kann! Mehrnicht. Die zwei Stunden Besuch und dann der Anwalt einmal im Monat.

Das bißchen Geplauder alle zwei Tage beim Hofgang (zur Zeit ist eine Frau da, mit der ich ab und zu rede, und sie hat gleich Ärger deswegen) kannst du vergessen. Es ist sogar so, daß es den Widerspruch noch verstärkt: Die, mit denen ich viel zu reden habe, wo ich vollständig ich bin - mit denen ich zusammenleben will, sind woanders, ihnen kann ich nur schreiben. Oben auf dem Dach sehe und spreche ich Menschen aber hier in der Zelle läuft dann die eigentliche „Kommunikation“ - an der Schreibmaschine! Nein, das ist keine Kommunikation. Das ist zerstückelt, reduziert, wird zensiert usw., und ich habe das jetzt erst besser begriffen, welche Bedeutung die Sprache hat. Draußen macht man das einfach - reden - und denkt gar nicht groß darüber nach. Tatsächlich ist es ja aber das, wie ein Mensch überhaupt Beziehungen herstellt zu anderen und darin seine Gedanken ausdrückt. Das wird hier völlig abgeschnitten. Und die Wirkung habe ich schon gemerkt: weil ich mich nur noch über das Schreiben verständigte, fing ich an, in Gedanken Sätze zu formulieren, in Schriftform, mit Satzzeichen drin. Also: nicht einfach denken, sondern gleich schreiben. Das ging dann so in meinem Kopf: „Ich will dir sagen Komma daß...“ usw. Verstehst du? Na ja, die ersten Anzeichen von Verblödung.

Daß ist kein Spaß, sag ich dir. So muß man hier aufpassen auf sich, sonst frißt einen die Situation auf. Dazu kommt ja, daß wir über die Zensur sowieso nur einen minimalen Bruchteil dessen, was wir reden wollen, auch schreiben können - und die Zensur wird permanent verschärft. Ich habe jetzt einen riesigen Unterschied gemerkt zur Zeit vorher, als der Prozeß war und der Anwalt auch noch jede Woche kam.

Die Wirkung der Bedingungen ist „schleichend“, sie kriecht dir in den Kopf und zerstört dich auf die Dauer auch körperlich.

Schleichend - das ist der Unterschied dazu, ob dich einer zusammenschlägt oder du kein Essen hast. Die Bedingungen wirken auf die Dauer so - das ist ihr Zweck -, daß dir jeder soziale menschliche Inhalt aus deinem Bewußtsein rausgerissen wird - dadurch, daß dir entzogen wird, was Menschen überhaupt ausmacht: soziale Beziehungen, Kommunikation - die Möglichkeit und Fähigkeit dazu.

Eine französische Genossin hat gesagt: Das soziale Wesen, das du bist, verschwindet mit der Zeit... Du wirst reduziert auf ein animalisches Überleben.

Das andere ist, und das erfahre ich ganz scharf: Für jeden von uns ist der zentrale Punkt die Einheit der Person, die sich jeder im Kampf erobert hat. Einheit von Denken, Fühlen, Handeln im kollektiven Leben, in der Politik. Das ist hier bei den Bedingungen im Kapitalismus - wo alles auf die Zerstückelung der Gesellschaft und jedes einzelnen abzielt der Prozeß, in dem du Mensch wirst. Das heißt umgekehrt, daß jede Situation, die diese Einheit zerstört, dich als Menschen zerstört. Genau das sind die Bedingungen hier.

Dazu gehört auch, daß wir immer mehr von der gesellschaftlichen Realität abgeschnitten werden. Das bißchen, was du von draußen mitkriegst, kommt entweder über die Presse, die hier erlaubt ist - und deren Hauptzweck bekanntlich ist, den Staat zu schützen, dementsprechend ausgeblendet ist ein ganzer Teil der Realität - oder über die x-fach zensierten Briefe (wenn überhaupt mal einer durchkommt). Du sollst jeden Bezug zur Wirklichkeit verlieren - und damit verlierst du dich selbst. Die Situation hier ist oft wie ein Vakuum.

Von allem, was an permanenter Kontrolle im Trakt, entwürdigender Dressur (das Nacktausziehen ständig) usw. läuft, rede ich jetzt gar nicht - das kommt alles nur dazu, es ist das, wie der Apparat seine totale Verfügungsgewalt über dich einsetzt.

Kein Mensch kann denken, daß diese Bedingungen so bleiben können, wie sie sind, daß wir das hinnehmen. Das ist im Kern was ganz Einfaches: wenn ich das auf die Dauer schlucken würde, wäre ich nicht mehr ich selbst. So absolut ist es.

Andreas hat vor 13 Jahren im Prozeß gesagt: Diese Bedingungen, zu denen wir „verurteilt“ werden, sind ein Todesurteil - mit dem Vorteil für die Justiz, daß sie es nicht aussprechen muß.

Das ist nur sehr schwer zu vermitteln, wie das hier ist. Aber ich denke, wer stehen und sich was vorstellen will, kann es.

Und ich habe wenig Lust, so zu tun, als wäre die Situation zum Aushalten. Sie ist es nicht und es gibt keine Alternative zur Zusammenlegung.

Eva-Maria Haule, Stammheim