EINMALEINS DER SENSIBILITÄT

■ Tom Johnsons „Music for 88“ im Ballhaus Naunynstraße

Da hör ich nun wieder auftragsgemäß. Ein Telefongespräch mit Qpfer, eine Einladungskarte vom Bezirksamt Kreuzberg. 60 Leute, die sich auf Tom Johnson freuen, ein paar Leute, die möglicherweise darüber etwas lesen wollen, Kulturspalten, die gefüllt werden müssen.

Tom Johnson, geboren 1939 in Colorado, Studium bei Elliot Carter und Martin Feldman, Musikkritiker beim 'Village Voice‘, heute in Paris lebend, steigt eher beiläufig auf die Bühne. Ein Flügel - eine Schultafel. „Die Tastatur des modernen Klaviers umfaßt 88 Tasten. Man kann die 88 in zwei Gruppen von je 44 Tasten aufteilen.“ 1x88 88/ 2x44 88/ 4x 22 88 - so steht es auf der Tafel und so spielt es es. 88 Tasten - Ton um Ton, dann in zwei 44er Gruppen usw. Bis er wieder bei 88 x 1 angelangt ist. Es ist ein Unterschied, 88mal eine 1er Gruppe zu spielen oder einmal eine 88er Gruppe. Man hört anders, wenn einem das bewußt ist.

Ich schreibe über Töne, die anderen über Politik, die in der Wirtschaft über Wirtschaft, Sport gehört dem Sport, und das Fernsehen beschäftigt sich mit dem Fensehen. Die Sprache, die ich verwende, ist die gleiche wie die, die sie in anderen Ressorts benutzen. Es ist seltsam. Zur Musik etwas zu sagen, ist nur möglich, wenn ich weiß, daß damit nichts anderes übertönt wird.

Ich bekomme Konzentrationsschwächen. Die Mersennischen Zahlen: eine Potenz von Zwei minus Eins, also 1, 3, 7 bis 511 und wieder zurück. Tom Johnson im knochentrockengrauen Anzug mit hoher Stirn und kleinem Bärtchen klettert die Tasten rauf und runter, laut vor sich hin zählend, ein linearer Ravel, der stoisch und unverblümt seine Geheimnisse ausplaudert, nichts verschweigt und alles spielt. Es ist einfach, menschlich und ziemlich kompliziert.

Musikkultur als Prinzip und nicht als Ressort. Es geht weiter und ich kann nicht zuhören. Ein Konzertbericht hat sich auf das Konzert zu beschränken. Und die Leser wollen das. Und sie haben recht damit. Politik hat mit Kultur als „Kulturpolitik“ zu tun, und auch solche Artikel sind vorgesehen. Diskussionen über taz-interne Machtkämpfe gehören auf die Debattenseite. Deshalb gibt es eine Debattenseite. Und den Leser langweilt das. Und das ist nur menschlich. Eine Kulturseite ist eine Kulturseite ist eine Kulturseite. Und wenn ich mich ärgere, dann nur, weil die Form dem Inhalt nicht adäquat ist. Und ich bin glücklich, wenn Ausdrucksebene und Inhaltsebene identisch sind. Und wenn eine Schweinerei passiert, dann schreibe ich das auf der Kulturseite über eine Kulturschweinerei. Und wenn etwas in der taz passiert, dann höre ich Musik.

2 X 3 ist dasselbe wie 3 X 2. Nämlich 6. Er spielt sechsmal einen Ton und dann einmal sechs Töne. Es war mir schon immer verdächtig. Tom Johnson beweist und widerlegt mathematische Lehrsätze und Zahlenreihen musikalisch. Angeblich gleichberechtigten Verhältnissen und Ergebnissen liegen völlig unterschiedliche Strukturen zugrunde. Manchmal kann man die Wahrheit nur durch Taschenspielertricks hörbar werden lassen. Das Kultur - Einmaleins als dramatisch gleichförmige Musik. Es wird durchgezählt.

Im 'Tagesspiegel‘ finde ich das Feuilleton auf Seite vier, in der 'Zeit‘ weit hinten. Wenn ich weiß, wo ich die Kultur zu finden habe, gibt es keine Schwierigkeiten. In der taz habe ich die Kultur immer überall gesucht. Ein romantischer Fehler. Zurück zur Mathematik. Die quadratischen Zahlen: Pierre Fermat: n hoch 2:3 ist immer eine Zahl mit einem Rest von 1 (außer den Zahlen, die man durch drei teilen kann).

Tom Johnson macht die mathematische Probe mit einer Dreitonbegleitung als Teiler, und siehe da, wenn er mit dem tiefsten Ton anfängt, enden die Tonreihen wieder mit dem tiefsten Ton - ist gleich Rest 1. Sehr schön, es klappt, und er spielt und zählt und spielt und zählt noch immer, wenn jeder nur mehr zuhört. Es klingt wie Bach, der stur durch Schumanns Zimmer läuft. Er erklärt Eulers „Mathematische Musik“ von 1730, spielt sich durchs „Pascalesche Dreieck“, berechnet die Anzahl der möglichen Akkorde, die man mit zwei Intervallen erreichen kann. Klanggranitblöcke aus vergessenen Kompositionen, musikalisches Urgestein, das in jeder Philharmonie noch heute einen Skandal verursachen würde, Glenn Branca sitzt am Flügel und erklärt nie nebenbei, wie er das gemacht hat, und jeder, der ein Klavier hat, könne das nachprüfen und möge es doch bitte selbst mal spielen. Es sei ganz einfach. „Oh, sie wollen die Elfer Akkorde hören?“ Und er macht lächelnd Schluß, weil er nur zehn Finger hat. Ich schreibe nur über Musik. Ich diskutiere gerne, ob der Satzbau sinnvoll und das Wort treffend, die Überschrift fetzig und die Empfindung sensibel genug ist. Ich habe keine Lust mehr. Die Diskussion über Worte ist eine Machtfrage und das Urteil sitzt auf der anderen Seite des Schreibtischs.

Klappt es noch mit der Sensibilität? Das führt zur 301sten Primzahl, 1987. Die nächste Primzahl ist 1993, aber lassen wir diese für die Zukunft.

Konrad Heidkamp