Das Atomzeitalter wird Fünfzig

Im Jahre 1938 entdeckten Otto Hahn, Fritz Straßmann und Lise Meitner die Kernspaltung / Festakt in Berlin mit viel Nachdenklichkeit und wenig Konsequenzen / Die Protestrede einer jungen Frau wurde abgewürgt  ■  Von Gerd Rosenkranz

Wie aus dem Nichts gekommen steht sie plötzlich am Mikrophon. Eine junge Frau mit buntem Pullover, die unter den knapp tausend geladenen grauen Herren schon längst hätte auffallen müssen. „Die Entdeckung der Kernspaltung vor 50 Jahren kann nicht Anlaß sein für einen Festakt, nur für einen Aufschrei.“ Mit ruhiger Stimme beginnt sie ihre Rede. Über die Opfer will sie sprechen, die von Tschernobyl und die von Hiroshima.

Ein halbes Dutzend Männer stürzen auf das Podium, die Lautsprecher verstummen, kurzes Gerangel, die Rednerin wird von der Bühne gedrängt. Verhaltene Rufe aus den hinteren Reihen: „Laßt die Frau reden“. Aber niemand unter den Veranstaltern findet den Mut oder die Größe, diese winzige Unterbrechung des offiziellen Festakts zuzulassen. Die Nachdenklichkeit, die sich an diesem Vormittag in der Berliner Kongreßhalle alle Redner im Übermaß verordnet haben, ist einen Moment wie weggeblasen. Und fast scheint es so, als blickten die Bronzeköpfe von Otto Hahn und Lise Meitner jetzt mit noch größerer Skepsis von ihren schlanken Sockeln auf die Szenerie, als zuvor während des Grußworts des Regierenden Bürgermeister. Der „wissenschaftlichen Großtat“ der Entdeckung der Kernspaltung durch Hahn, Meitner und ihren Kollegen Fritz Straßmann gelte es an diesem Tage zu gedenken, aber „ohne feiern zu können“, sagt Eberhard Diepgen. Denn Hiroshima und auch Tschernobyl seien nicht zu vergessen. Jedoch das Wissen über die Kernspaltung lasse sich nicht mehr wegdenken.

Und weil es „eine Ethik ohne Verantwortung im luftleeren Raum nicht gibt“, müsse die westliche „Wertegemeinschaft“ ihre Sicherheit auch weiterhin auf Atomwaffen stützen. Die Geschichte der Entdeckung der Kernspaltung ist eine Geschichte reich an Umwegen und Irrtümern. Als Otto Hahn und Fritz Straßmann ihre Uranproben mit Neutronen beschossen, folgten sie dem Trend der Zeit. Sie suchten, wie andere Forschergruppen auch, nach sogenannten Transuranen, die, schwerer noch als Uran, durch Neutronenbeschuß entstehen sollten. Bei den Versuchen entstand auch Radium. Doch das vermeintliche „Radium-Isotop“, das sie isoliert hatten, verhielt sich chemisch wie das Erdalkalimetall Barium, das längst bekannt und im Periodensystem der Elemente weit entfernt vom Uran angesiedelt ist. Händeringend wandten sich die Chemiker Hahn und Straßmann schriftlich an die Kernphysikerin Lise Meitner. Die jahrzehntelange wissenschaftliche Weggefährtin Hahns war im selben Jahr vor den Nationalsozialisten nach Schweden geflohen: „Immer mehr“, schrieb Hahn, „kommen wir zu dem schrecklichen Schluß: Unsere Radium-Isotope verhalten sich wie Barium. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, daß es eigentlich nicht in Barium zerplatzen kann.“ Tat es aber doch - und Lise Meitner fand über Weihnachten mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch die Erklärung.

Über Energiegewinnung oder gar die Möglichkeit der Atombombe wurde zu diesem Zeitpunkt nicht mal nachgedacht.

Wie ein roter Faden durchzog die Frage der Verantwortung der Wissenschaft in der Kongreßhalle die Festvorträge des Heidelberger Kernphysiker Professor Peter Brix und des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Professor Heinz Staab. „Es waren Entscheidungen außerhalb der Wissenschaft, die die unheilvolle Richtung der Forschung für die nächsten Jahre bestimmten“, meinte Staab. Und Brix: „Das große Unglück lag darin, daß Deutschland sich anschickte, die Welt zu unterdrücken und mit Krieg zu überziehen, als in der Wissenschaft die Zeit gekommen war, die Spaltbarkeit des Urans zu erfahren.“ Die beispiellose Anstrengung, die noch während des Zweiten Weltkriegs in den USA zum Bau der Bombe führte, wurde durch eine Warnung „des Pazifisten Einstein“ vor parallelen Ambitionen Hitler-Deutschlands ausgelöst.

Mit der Ahnungslosigkeit, mit der Hahn, Meitner und Straßmann das Atomzeitalter einleiteten, sollte in der Kongreßhalle offensichtlich den heutigen Wissenschaftlern die Absolution gleich miterteilt werden, die auch nach Tschernobyl die Fahne der friedlichen Nutzung der Atomenergie hochhalten.