Sozialistische Hoffnungsträger gesucht

In einem Hörsaal der Universität Bochum begab sich ein hochkarätig besetztes Symposium zum 75.Geburtstag von Willy Brandt auf die Suche nach den Perspektiven des Sozialismus in Europa / Konfusion und Trauerarbeit / Viel Moral, wenig Perspektive  ■  Aus Bochum Walter Jakobs

„Der Sozialismus hat Zukunft, weil er eine Vergangenheit hat. Es gibt heute noch keine sozialistische Gesellschaft auf unserem Planeten, aber ich glaube, daß der Sozialismus nötig ist.“ Wie der Sozialismus aussehen könnte, verriet Lew Kopelew seinen Zuhörern zwar nicht, aber „entweder werden die Menschen vernünftig, oder die Erde geht unter“. „Hat der Sozialismus eine Zukunft?“ lautete die Frage, die auf einer Podiumsdiskussion neben Kopelew auch Richard Löwenthal, Peter von Oertzen und dem einflußreichen DDR-Vertreter Otto Reinhold gestellt worden war. Die vier scheiterten grandios. Nur gut, daß der graue Hörsaal der Ruhruniversität Bochum ohnehin nur von hart gesottenen Überzeugungstätern belegt war. Suchende, politisch Neugierige hätten sich wohl mit „Grauen und mit Recht“ abgewandt, wie Johan Galtung, der vielleicht wichtigste europäische Imperialismusforscher, den Abend auf Nachfrage bilanzierte.

Keine Frage, die nicht unbeantwortet geblieben wäre. Keine These, der man nicht ausgewichen wäre. Wo Widerspruch und gedankliche Klarheit vonnöten gewesen wäre, dominierte belanglose Rederei. Für Otto Reinhold, Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, bestehen für den Aufbau des Sozialismus wie eh und je zwei Grundvoraussetzungen: die Produktionsmittel müssen sich im gesellschaftlichen Eigentum befinden und die „Werktätigen“ müssen über die „politische Macht“ verfügen. Ist auf diesem Fundament tatsächlich das sozialistische Paradies zu bauen? Darf diese These nach jahrzehntelanger realsozialistischer Praxis noch unwidersprochen bleiben? „Sie haben in der DDR doch ein hervorragendes Bildungssystem. Warum schlägt sich das nicht in ökonomischen Erfolgen nieder?“ wollte eine Zuhörerin wissen. Ja, warum nicht? Warum hinkt selbst die realsozialistische Umweltpolitik dem destruktiven Kapitalismus hinterher? Welche Strukturen sind dafür verantwortlich, daß die realsozialistischen Ingenieure trotz Befreiung von den destruktiven Kräften des Kapitalismus immer wieder zu ökologisch schlechteren Ergebnissen kommen als im Kapitalismus? Warum liegt der Pro-Kopf-Verbrauch an Energie, worauf Klaus Traube hinwies, in der DDR nach 40 Jahren Vergesellschaftung dreimal höher als in der BRD? Allen diesen Fragen wich Otto Reinhold, der für die SED maßgeblich an der Formulierung des bekannten SED-SPD -Grundsatzpapiers beteiligt war, nicht nur während der Podiumsdiskussion, sondern im Verlauf des gesamten Symposiums mit stoischer Ruhe aus.

Dennoch, so grausam wie die öffentliche Diskussion geriet der weitere Teil des dreitägigen Symposiums zum Sozialismus in Europa nicht. Daß die heiligen sozialistischen Grundsätze gänzlich neu diskutiert werden müssen, dafür hatte auf westdeutscher Seite vor allem Oskar Negt zu Beginn des als Geburtstagsgeschenk für Willy Brandt gedachten Symposiums geworben. Was hindert die Menschen daran, im Sinne von Kopelew „vernünftig“ zu werden? Welche Rahmenbedingungen sind unerläßlich, daß beim Zusammenleben und -arbeiten der Menschen etwas „Vernünftiges“ heraus kommt?

Der Schwede Gunnar Adler-Karlsson hielt den zumeist schon alt gewordenen linken Wissenschaftlern im Verlauf des Symposiums vor, lediglich gut gemeinte Menschenbilder zu malen, die mit der Realität nichts gemein hätten. Die linken Modelle versagten wegen der falschen anthropologischen Grundannahmen. Die Menschen - „ich auch“ - seien „faul“. Adler-Karlsson warb für einen „sozialistischen Grundsektor mit Arbeitspflicht für jedermann“. Durch diesen Sektor, eine Art „Ökodiktatur“, in dem man zehn bis zwölf Jahre zu arbeiten hätte, würden die „Grundbedürfnisse“ für alle „garantiert“. Danach könnte man „die Freiheit zulassen, die kapitalistische Konkurrenz mit Freiheit, Lust und Spiel“. Der Schwede - „ich glaube an die Faulheit der Menschen“ ist sich sicher, daß die „meisten Menschen sich zurückziehen würden, um das Leben zu genießen“.

Daß man mit einer Ökodiktatur im Sinne von Wolfgang Harich die Selbstzerstörung des Menschen verhindern könnte, glaubt auch Iring Fetscher, nur ist ihm der Preis zu hoch. Um den unvermeidlichen „Abschied von der Wachstums- und Konsumsteigerungsgesellschaft“ möglich werden zu lassen, sei die Gesellschaft so umzugestalten, daß die Befriedigung des Menschen nicht durch Konsum, sondern durch „die Art der Tätigkeit und durch soziale Anerkennung“ in Erfüllung gehe. Eine „alternative Wertorientierung“ sei erforderlich, die aber, so deutete Fetscher an, möglicherweise eine nicht näher diskutierte „Kulturrevolution“ voraussetze.

Davor graust wohl nicht nur dem Berliner Heinz-Dieter Kittsteiner. In Fetschers Utopie erkannte Kittsteiner eine „soziale Befriedungsdiktatur“. Es sei noch längst nicht ausgemacht, daß der Umbau des bestehenden kapitalistischen Systems von vornherein ausgeschlossen sei. Kittsteiner warnte vor linker Bescheidenheit, vor einer „linken Technikfeindlichkeit“, denn die durch Technik verursachten Probleme „können wahrscheinlich nur durch Technik gelöst werden“. Der Sozialismus ist für Kittsteiner so etwas wie „die dritte Welle der inneren Mission“.

So ganz abschreiben mochte Wolfgang Templin, in den Westen abgeschobener Friedenskämpfer, den Sozialismus denn doch nicht. Für Templin lautet die ungelöste „Grundfrage im Realsozialismus, durch was kann man den kapitalistischen Anreiz ersetzen?“ Während Otto Reinhold dieses Problem durch Einführung von „Marktelementen“, durch eine größere Selbständigkeit für Kombinate für lösbar hält, verlangt Templin eine erweiterte Partizipation, mehr Öffentlichkeit und Kontrolle. Weil es daran in der DDR mangele, gehe die Produktivität in den Keller.

Den Glauben an die Vernunft der Mehrheit, an die revolutionären Subjekte in den Metropolen hat der Schweizer Sozialist Jean Ziegler offensichtlich völlig verloren. „Der schlimmste Feind“ der Bauern im tropischen Regenwald ist für ihn der „Arbeiter und Angestellte in Genf oder London“. Im Innern seien die Industrieländer zwar Demokratien, aber jenseits der Mauern „praktizieren diese Demokratien das Gesetz des Dschungels, des Faschismus“.

Was bleibt für „Sozialisten“ da zu tun? Der in Bochum zeitweise anwesende „Löwe des Sozialismus“, so nennt die griechische Kulturministerin Melina Mercouri in ihrem Geburtstagsbrief Willy Brandt, verlangte von den europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten nach einem für die Dritte Welt „verlorenen Jahrzehnt“ eine neue Art von Internationalismus, eine Verabschiedung von der Dominanz der metropolitanen Entwicklungstheorien. Für den Norweger Johan Galtung ist jede Entwicklungstheorie ohne Wert, wenn sie nicht gleichzeitig eine Theorie über Amerika beinhaltet. Die Entwicklung sei kein ökonomisches, sondern ein politisches Problem. 6,5 Millionen Menschen habe die USA in der Dritten Welt im „Kampf gegen den Kommunismus ermordet“. Das sei die konsequente Umsetzung der amerikanischen Philosophie, wonach jeder Amerikaner berechtigt sei, Eigentum zu haben und damit neues Eigentum zu machen, „und zwar über die ganze Welt“.