Sind Soldaten „potentielle Mörder“?

Das Oberlandesgericht Frankfurt hob den Freispruch aus dem umstrittenen „Soldaten-Urteil“ gegen einen Arzt auf / Untere Instanz muß erneut Sachverhalt prüfen / Einmischung hoher Politiker war vorausgegangen  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Was für Carl von Ossietzky 1932 mit einem glatten Freispruch endete und Tucholsky ungestraft sagen durfte, bleibt in der BRD weiterhin juristisch ungeklärt: die Frage, ob man Soldaten auch von rechtswegen „Mörder“ nennen darf. Das Oberlandesgericht Frankfurt hob am Freitag das umstrittene „Soldaten-Urteil“ auf, in dem ein Frankfurter Arzt vom Vorwurf der Volksverhetzung und Beleidigung der Bundeswehr freigesprochen worden war. Ohne die Gretchenfrage „Sind Soldaten potentielle Mörder?“ im einzelnen zu klären, verwies das Oberlandesgericht das Verfahren wegen mangelnder Sachaufklärung an die untere Instanz zurück. Der 41jährige angeklagte Mediziner, Mitglied der „Ärzteinitiative zur Verhinderung eines Atomkrieges“, hatte 1984 auf einer Podiumsdiskussion im Frankfurter Friedrich-Ebert-Gymnasium unter anderem gesagt: „Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder“ und „Bei der Bundeswehr gibt es einen Drill zum Morden über 15 Monate lang, besonders in den ersten Monaten“. Für diese Äußerungen, die damals einen anwesenden Bundeswehrhauptmann heftig in Rage gebracht hatten, wurde der Arzt in erster Instanz vom Frankurter Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 10.500 Mark verurteilt, in zweiter Instanz jedoch im Dezember '87 freigesprochen. Die 14.Kammer des Landgerichts hatte dem Angeklagten zugute gehalten, er habe „einen grundsätzlich pazifistischen Standpunkt“ vertreten. Die Äußerungen des Arztes seien als „polemische Formulierungen“ und „individuelles Werturteil“ vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt.

Wie kaum ein anderes Urteil in den letzten Jahren hatte dieser Freispruch offenbar an den Grundfesten des Staates gerüttelt und die gesammelte „Ehre“ der Bundeswehr verletzt. Und wie selten zuvor mischten sich hohe Politiker in die Belange der „unabhängigen“ Justiz ein, indem sie offene Urteilsschelte betrieben. In einer Ehrenerklärung für die Bundeswehr versicherte Bundespräsident von Weizsäcker, Soldaten seien bestimmt keine Mörder, sondern hätten vielmehr den Auftrag, Morde zu verhindern. Außenminister Genscher erklärte öffentlich, das Frankfurter Urteil sei geeignet, Haß in der Bevölkerung zu säen. Und Justizminister Engelhard drohte neue Gesetzesvorschriften zum Schutz der Ehre der Bundeswehr für den Fall an, daß der Freispruch auch vor dem oberlandesgericht Bestand habe.

Die Richter des Frankfurter Oberlandesgericht beugten sich nun teilweise diesem öffentlichen Druck. Sie hoben den Freispruch zwar auf, sagten damit jedoch nicht, daß man Soldaten in keinem Fall Mörder nennen darf. Es komme jedoch darauf an, in welchem Zusammenhang jemand diese Äußerungen macht. Das Landgericht hätte in der Vorinstanz daher klären müssen, ob der Frankfurter Arzt bei der Diskussion im Friedrich-Ebert-Gymnasium provoziert worden sei und der Vergleich in der Hitze des Gesprächs gezogen worden sei. Im kommenden Jahr wird nun das Landgericht in einer Neuauflage die SchülerInnen des Friedrich-Ebert-Gymnasiums zur Beweiserhebung laden müssen.