Seh'n oder Nichtseh'n

■ Wenn Ostern und Weihnachten in der „Lindenstraße“ zusammenfallen

Jetzt gucken wir also in langanhaltender Treue und Verbundenheit'winters wie sommers, bei unseren Nachbarn in der Lindenstraße vorbei, die Weihnachten Hausmusik betreiben und Ostern Eier bemalen - genau zur gleichen Zeit wie wir; die schneeschippen müssen, wenn auch bei uns der Schnee liegt, die Baden gehen, wenn auch bei uns das Wetter danach ist. Die also leben wie du und ich, jahreszeitlich echt realistisch, vom Schicksalsrealismus ganz zu schweigen.

Die Lindenstraßen-Nachbarn haben an Schicksalsschlägen alles zu erdulden, was je in den Ecken der real existierenden deutschen Wohnküchenästhetik genistet hat. Zum Beispiel die Homosexualität des Flöter-Sohnes (muß er übrigens ausgerechnet den diskriminierenden Namen „Flöter“ tragen?). Verwüstender Alkoholismus bei Doktor Dressler, der irgendwann an seiner wiederaufgetauchten ersten Gattin zu kleben anhub. Das Trinken und Lallen zog sich über Winter und Sommer hin und fand ein glückliches Entziehungsende mit der Rückkehr des frischverliebten Ehepaars im sommerlichen Habit. Es war ja auch August.

„Hansemann“ Beimer, der Sozialarbeiter, war zwischenzeitlich mit seiner herzensguten „Taube“ nicht mehr so recht zufrieden und verliebte sich basedoofäugig in Anna Ziegler, deren schauspielerisches Mühen zum vergeblichsten Wollen unter den Videokameras in der Lindenstraße gehört. Mit Anna drückte er sich im September - sie in der Strickjacke, er fröstelnd ohne Mantel - in einem Hauseingang herum. Anna wiederum wurde von ihrem - inzwischen Ex - Gatten windelweich geprügelt und suchte Schutz und Trost in der WG der Lindenstraße: bei Gung (dem Vietnamesen), Gaby und Benno Zimmermann, bei beider Sohn, dem kleinen Mäxchen - der freilich seinerzeit von Phil Segers gezeugt worden ist.

Ja, und nun mußte Benno Zimmermann, der guade, oude Kerl der auch noch Zimmermann von Beruf war - an Aids erkranken und ist am vorletzten Sonntag, kurz vor Weihnachten, verschieden. Bei den wiedervereinigten Beimers wurden grade die Weihnachtsliedernoten aus dem Schrank geholt, Mutter hatte, wie jedes Jahr, die Plätzchen verkohlen lassen und zündete die erste Kerze am Adventskranz an. Benno und Gaby waren derweil in Bennos Heimat, das Gebirg, gefahren, wo Benno sterben wollte. Draußen sägten nicht nur die Violinen, nein: auch der Schnee fiel sacht am erleuchteten Sterbefenster vorbei.

So weit, so tragisch. So winterlich, so realistisch. Doch nun wurde Benno am vergangenen Sonntag zu Grab gelassen, und alle, alle aus der Lindenstraße standen trauernd auf dem Friedhof herum. Ordentlich eingemummelt in Winterzeug, man will sich ja so kurz vor Weihnachten nicht noch verkühlen. Verkühlen? Kurz vor Weihnachten? Nein: Wenn Engel wie Benno sterben müssen, und dann auch noch an Aids, spielt die Welt in der Lindenstraße reineweg verrückt: Die Bäume schlagen aus, mitten im kalten Herbst. Es war auf diesem Friedhof ein österliches Blüh'n und Sprießen, frisch-üppiges Laubgrün senkte sich von den Ästen auf die Trauergemeinde herab. Tränen? Ach was, Schweiß war es, der perlend über die wollen eingepackten Gesichter rann. Nix Nikolausi - Osterhasi drückte sich in der Außenaufnahme herum und legte ein Realismus-Windei. Herr Dr. Dressler, bitte weitersagen: Wir Prost-estieren scharf dagegen, daß man mit unserer Wermut über Bennos Tod so umspringt.

Sybille Simon-Zülch