Frankreichs neue Fronten

■ Mit seiner Front National wurde Jean-Marie Le Pen zu Westeuropas erfolgreichstem Rechtsradikalen

Georg Blume

Die Bösen sollen das Zittern lernen.“ Lautstark schwingt die Stimme über den Opernplatz. Die Tonlagen wechseln abrupt. Einmal klingt es drohend, kurz darauf vertraulich, aber immer ist sie nah, spontan, direkt am Ohr des Zuhörers. Jean -Marie Le Pen spricht - es ist unverkennbar. Noch bis vor kurzem war er der beste Redner der Nationalversammlung. Wenn er im Fernsehen auftritt, steigen die Einschaltquoten. Le Pen gewiß kein Führer - aber mehr auch als ein Alleinunterhalter. Bei der Präsidentschaftswahl im April war seine Stimme überall und zu jeder Stunde in Radio und Fernsehen zu hören.

Da mag das Bild vom Pariser Opernplatz an diesem trüben Novembersamstag fast Erstaunen wecken. Es sind nur die Ewigtreuen, annähernd dreitausend Menschen, die ihrem Führer zur „nationalen Kundgebung für die Wiedereinführung der Todesstrafe“ gefolgt sind. Enttäuschung über diese geringe Teilnehmerzahl hat sich in den Reihen der Le-Pen-Anhänger breit gemacht, bis der Führer das Wort ergreift. Der aber wettert wie eh und je gegen die Verbrecher („unter uns“), sorgt sich um Alte und Kinder („die Opfer“), verurteilt die Strafjustiz („lächerlich“), belustigt sich zuletzt über große Worte Mitterrands, und alsbald schallt begeisterter Applaus über den Opernplatz. Jean-Marie Le Pen zeigt seine Stärke: Er gibt nie auf. Zu lange ist er schon für seine Sache unterwegs, um noch resignieren zu können.

Die französischen Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr machten ihn zunächst in aller Welt bekannt. „Nichts geht mehr in diesem Land ohne die Front National“, rief Jean -Marie Le Pen seinen Wählern am Abend des 24. April dieses Jahres zu, dem Tage des ersten Wahlgangs. Mit knapp 15 Prozent der abgegebenen Stimmen hatte der blonde Bretone den wichtigsten politischen Erfolg einer rechtsradikalen Partei in Europa seit Kriegsende erfochten. Die Knie genutzt

Jahrzehntelang hatte Le Pen im Abseits der großen französischen Politik gestanden, Beachtung nur bei kleinen neo-faschistischen Clubs und den Veteranen des französischen Vorkriegsfaschismus gefunden. Erst im Zeichen der wirtschaftlichen und sozialen Krise dieses Jahrzehnts, als in Frankreich wachsende Ängste vor Arbeitslosigkeit und Kriminalität in offene Feindseligkeit gegenüber den Immigranten aus arabischen Ländern umschlugen, gelang Le Pen der politische Durchbruch. Binnen weniger Jahre zerfielen die kommunistischen Hochburgen in Frankreichs Arbeitervorstädten. Ob in Paris, Lille oder Marseille gleichsam in allen französischen Metropolen hatten sich die Vorstädte mit der in Frankreich ungewöhnlich spät einsetzenden Landflucht in den sechziger und siebziger Jahren in trostlos-graue Betonghettos verwandelt. Diese urbanen Neubauten, in denen auch viele Immigranten Zuflucht gefunden hatten, wurden zur Keimzelle des aufkommenden Rechtsradikalismus. Im neuen Vorstadtmilieu versagten die sozialen Einbindungsbemühungen der etablierten Parteien und Vereine. Le Pens rassistische Parolen lieferten den letzten glaubhaften Schutzmantel vor der sozialen Misere.

Wahlanalysen der letzten Jahre zeigen, daß die Le-Pen -Partei immer wieder dort zulegen konnte, wo Arbeitslosigkeit und Verarmung die Gesellschaft am härtestens trafen. „Zu Le Pen flüchtete sich plötzlich mindestens ein Teil der Volksmeinung, in einem Land, wo die kommunistische Partei am Boden liegt, die Gewerkschaften ohnmächtig sind, und wo sich jene berühmte Zweidrittelgesellschaft einrichtet, die die Reichen reicher und die Armen ärmer macht“, schrieb der Herausgeber des links-liberalen 'Nouvel Observateur‘, Jean Daniel.

Le Pen profitierte von Frankreichs unverdauter Kolonialgeschichte und reaktivierte manch klammheimlichen Haß auf die Algerier. Er schöpfte Wähler ab von Frankreichs kommunistischer Partei, deren Mitglieder den jahrzehntelang unerschütterten Glauben an ihre Organisationen in den achtziger Jahren verloren hatten, dann oftmals verunsichert nach einem neuen politischen Halt suchten und ihn bei Le Pen fanden. Er schlug schließlich Gewinn aus dem Mißerfolg der sich ablösenden Regierungen. Erst scheiterte mit der sozialistischen Verstaatlichungspolitik bis 1982 der Reformversuch von links, fünf Jahre später brachten auch die neoliberalen Gegenreformen der Rechtsregierung von Premierminister Jacques Chirac kein Ende der Krise. Währenddessen fand die rechtsradikale Kritik an der französischen „Viererbande“, wie Le Pen die etablierten Parteien (Gaullisten, Liberale, Sozialisten und Kommunisten) verächtlich nennt, eine immer breitere Zustimmung.

Mit elf Prozent bei den Europawahlen 1984 schüttelte Le Pen seine Außenseiterrolle ab und erreichte den Zutritt zu den großen Medien. Mit zehn Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen 1986 zog die Front National erstmals in die Nationalversammlung ein und etablierte sich im demokratischen System der Nation. Der persönliche Wahlerfolg Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen im April versprach dem FN-Vorsitzenden nunmehr die oppositionelle Führungsrolle unter dem wiedergewählten Präsidenten Fran?ois Mitterrand.

Zweierlei hatte Le Pen im April erreicht: das bis dahin festgefügte Rechts-links-Schema der französischen Politik war gesprengt und die politische Debatte der Nation verkürzte sich nunmehr auf eine einzige Frage: Wer ist für und wer ist gegen Le Pen? Standbein Parlament verloren

Bei den französischen Parlamentswahlen im Juni, wie auch bei den anschließenden Kantonalwahlen im September (vergleichbar den bundesdeutschen Kreiswahlen) lehnten die bürgerlichen Parteien aus Angst vor dem eigenen Identitätsverlust ein offenes Wahlbündnis mit den Rechtsradikalen ab. Die Ausnahme in Marseille bestätigte die Regel.

Aufgrund des von Chirac wiedereingeführten Mehrheitswahlrechts, das die großen Parteien begünstigt, konnte es den FN-Kandidaten nicht gelingen, bei den diesjährigen Wahlen mehr als ein Abgeordnetenmandat im Parlament zu gewinnen. Der Durchmarsch Jean-Marie Le Pens, der bis dahin bei jeder nationalen Wahl Stimmen dazugewinnen konnte, war mit dieser Wahlniederlage gestoppt. Zudem hatte die Front National den Verlust ihrer Fraktion in der Nationalversammlung zu beklagen.

Das parlamentarische Standbein in Paris hatte der Front National in den letzten Jahren nicht nur demokratische Legitimation und einen leichteren Zutritt zu den Medien verschafft, sondern der Partei erlaubt, mit ihren Ideen in allen offiziellen politischen Debatten präsent zu sein. Über ihre Wahlkampfslogans hinaus gewann die FN damit an Glaubwürdigkeit. Doch steht es offen, inwieweit der Verlust des parlamentarischen Standbeins Le Pen dauerhaften politischen Schaden zufügen kann. Das Rekordtief der Wahlbeteiligung bei Parlaments- und Kantonalwahlen hat Jean -Marie Le Pen bereits dazu veranlaßt, seine außerparlamentarische Position als „im Einklang“ mit dem Wählerwillen zu betrachten, der sich nach seiner Auffassung dem politischen System der „Viererbande“ verweigert.

Daß sich Jean-Marie Le Pen nach den verlorenen Wahlen dennoch in der politischen Defensive befand, zeigte sich nach seinem antisemitischen Ausspruch „Durafour-Crematoire“ im September. Mit dem Wortspiel stellte Le Pen - ein Jahr nachdem er den Mord an sechs Millionen Juden in den Vernichtungslagern der Nazis als „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ bezeichnet hatte - aus dem Namen des derzeitigen Ministers für den öffentlichen Dienst, Michel Durafour, eine Beziehung zu den „Gasöfen“ (four: Ofen) der Nazis her. Die Bemerkung Le Pens löste nicht nur einen Proteststurm in der französischen Öffentlichkeit aus, sie stieß auch in der Front National auf Widerstand und offenbarte damit die Krise in der Partei. „Um respektiert zu werden, muß man es auch verstehen, sich Respekt zu verschaffen“, nörgelte Yanne Piat, die damals einzige Parlamentsabgeordnete der Partei. Sie und eine Reihe anderer FN-Führungsmitglieder wurden aufgrund ihrer Kritik an Jean -Marie Le Pen in den folgenden Wochen von der Partei ausgeschlossen. Als wenig später der Generalsekretär der Partei, Jean-Pierre Stirbois, dem eine Schlüsselrolle in der FN-Führung zukam, bei einem ungeklärten Autounfall ums Leben kam, erschien die Front National nunmehr von innen stark geschwächt. Das Demonstrations-Debakel auf dem Opernplatz war dann die vorerst letzte, logische Zwischenstation auf Le Pens politischer Talfahrt. Le-Pensche Perspektiven

Kraft seiner Erfahrungen braucht sich Jean-Marie Le Pen von den jüngsten Entwicklungen jedoch kaum beunruhigen zu lassen. Hatte man ihm noch vor einem Jahr - die Affäre um das „Detail in der Geschichte“ war in aller Munde - kaum mehr Chancen bei den Präsidentschaftswahlen eingeräumt, so konnte Le Pen diese Vermutungen nur wenige Monate später mit seinem Wahlerfolg widerlegen. Damals wie heute stützen sich die Zukunftschancen der Front National auf einige objektive politische Bedingungen, denen in Frankreich, anders als in vergleichbaren westeuropäischen Ländern, maßgebliche Bedeutung zukommt:

-Die über 30 Jahre nahezu unangefochtene Rechts-links -Ordnung französischer Politik in der V. Republik ist ausgehöhlt. Unter dem regierenden sozialistischen Minderheitskabinett setzen sich die Spaltungstendenzen im bürgerlichen Lager fort und geben Le Pen politischen Freiraum auf der Rechten.

-Die Vorschußlorbeeren der neuen Regierung zehren sich rasch auf. Die Desillusionierung über die von Premierminister Rocard proklamierte „politische Öffnung“ zur Mitte hat eingesetzt und wird radikaler Kritik in Zukunft zuträglich sein.

-Bei anhaltender Arbeitslosigkeit haben sich die politischen Ideen von Sozialisten und Bürgerlichen in den letzten Jahren aufgebraucht. Aus der in Frankreich vielzitierten „ideologischen Leere“ kann Le Pen noch größeren Profit schlagen als bisher. Bei den in Frankreich im März und Juni stattfindenen Kommunal- und Europawahlen besitzt die Front National - aufgrund des bei diesen Wahlgängen vorherrschenden Verhältniswahlrechts - erneut reale Erfolgschancen. Die politische Rehabilitierung der Rechtsradikalen nach den letzten Wahlniederlagen ist damit bereits in Sichtweite gerückt.

-Schließlich kann Le Pen nach wie vor bei annähernd 30 Prozent der französischen Bevölkerung auf Unterstützung hoffen, die sich bisher in Meinungsumfragen seinen politischen Ideen gegenüber positiv aussprechen.

Jean-Marie Le Pen hat noch nicht ausgeträumt. Redekunst und taktisches Geschick haben es ihm in der Vergangenheit immer wieder ermöglicht, aus scheinbar endgültigen Niederlagen politisches Kapital zu schlagen. Auf seiner Führungspersönlichkeit gründen sich heute die Hoffnungen der westeuropäischen Rechtsradikalen.

Ist es eine Weile ruhiger um Jean-Marie Le Pen geworden, braucht man erfahrungsgemäß auf den nächsten Coup nicht lange zu warten. FN-Chefideologe Bruno Megret: „Ohne das Parfum des Skandals wäre die Front National niemals durch die Medien groß geworden.“