„Ich war nicht tough“

■ Gunter Göckenjan sprach mit dem britischen Regisseur Terence Davies über seinen Film „Still lives, Distant voices“, über Katholizismus und Homosexualität

Gunter Göckenjan: Ihr Film erzählt die Geschichte einer typischen englischen Arbeiterfamilie der fünfziger Jahre...

Terence Davies: Ich habe das nicht so gesehen, meine Ziele waren viel bescheidener. Ich wollte einen Film über meine Familie machen und ein Requiem über einen vergangenen Lebensstil. Der Spiegel der englischen Arbeiterklasse, den jetzt alle darin sehen, war nicht meine Intention.

Die Musik - die alten Radioschlager, die gesungen werden ist für die Familienmitglieder das Medium, durch das sie ihre Frustrationen zum Ausdruck bringen.

Auch das war ursprünglich nicht mein Anliegen. Erst nach Beendigung des Film habe ich gemerkt, daß dort alle ihre Gefühle gesungen haben. Sie wußten es aber nicht. Meine Schwester zum Beispiel sang „I want to be around to pick up the pieces“, das galt ihrer Ehe. Es ist viel bewegender, wenn du nicht merkst, was du tust: Unartikulierte Menschen singen ihre Gefühle und wissen es nicht. Darüber machte ich einen Film und wußte es nicht.

Analyse auf der Leinwand macht selten Spaß.

Genau: Was ich am Film liebe, ist das gleiche wie das, was ich an Musik liebe. Man reagiert direkt darauf. Es entsteht eine eigene Welt, und wenn du darauf ansprichst, können es wunderbare zwei Stunden werden. Man muß weder Deutscher sein, um Brahms, noch Franzose, um Ravel zu lieben.

Was halten Sie von Rock- und Popmusik, dem musikalischen Ausdrucksmittel der Arbeiterkinder heute?

In England gibt es nur zwei Möglichkeiten, die Klassenschranken zu durchbrechen. Du wirst entweder Sportler oder Rockmusiker. Wenn du viel Geld machst, spielt die Herkunft keine Rolle mehr. Mehr weiß ich nicht über Popmusik, weil ich sie nicht mag. Wir waren sehr viel reicher, damals.

Wieso?

Leute wie Cole Porter lebten noch. Damit ist keine Musik vergleichbar. Sinatra war auf der Höhe seiner Fähigkeiten, ebenfalls Ella Fitzgerald, Nat King Cole oder Judy Garland. So lange wie es populäre Musik gibt, wird man sich an diese Leute erinnern. Sinatra ist wahrscheinlich der größte Sänger des Jahrhunderts, wegen seiner Phrasierungen. Er dramatisierte die Songs eher, als daß er sie interpretierte. Ich hatte das Glück aufzuwachsen, als es diese Reichtümer gab. Wir waren auch viel naiver. Heute ist jeder ganz schrecklich „sophisticated“. Wir gingen ständig ins Kino, es mußte nicht mal unser Lieblingsstar in dem Film sein. Mit unserem Lieblingsstar jedoch gingen wir durch dick und dünn, ob sein Film gerade gut oder schlecht war. Man ging, weil man ein Fan von Doris Day oder Humphrey Bogart war.

Sie sind auch auf eine Filmschule gegangen.

Ja, aber ich habe dort nicht gelernt, Filme zu machen. Die einzige Art, etwas zu lernen, ist, es zu tun. Nützlich war es dennoch, weil ich Gelegenheit hatte, Filme zu sehen, die ich vorher in Liverpool nie hätte sehen können. Bresson -Filme zum Beispiel. Außerdem war es eine Offenbarung zu lernen, warum ein Film funktioniert. Wenn er nämlich funktioniert, ist es ziemlich schwierig, den Grund zu finden, da er dich ja vereinnahmt. Das schärfte meine Vorstellung davon, wie englischer Film sein sollte. Bei uns macht man ja kaum Film, man macht Aufnahmen von gesprochenen Ereignissen. Eher Fernsehen als Kino. Das ist grammatikalisch, ästhetisch und syntaktisch ein großer Unterschied. Film muß in England noch als Kunstform entdeckt werden.

Was sagen Sie dazu, daß Sir Richard Attenborough einen europäischen Filmpreis bekommen hat?

Er hat ihn wirklich verdient. Er bemüht sich um die Pflege des Kinos. Er ist ein großartiger Verteidiger und Unterstützer, unglaublich großmütig. Deshalb war ich begeistert, daß er den Preis bekommen hat.

Ich finde seine Filme ziemlich uninteressant.

Stimmt. Trotzdem hatte Miß Lollobrigida recht, als sie sagte, daß er sehr gutes Unterhaltungskino macht. Das ist gutes Handwerk. Seine Massenszenen handhabt er genauso großartig wie De Mille. Wenn ich an den Ärger denke, den ich schon mit 26 Statisten habe - er arbeitet mit Tausenden. Außerdem finde ich es völlig okay, wenn man mit ernsten Themen Leute unterhält.

Was waren die Probleme mit 26 Statisten?

Du sagst ihnen, was sie tun sollen, und sobald sie es tun, sieht es unecht aus. Du rufst „Aufhören, aufhören!“, dann tun sie gar nichts mehr. Wenn du sagst: „Seid natürlich“, werden sie total steif.

Wie haben Sie es geschafft, die Schauspieler natürlich wirken zu lassen?

Ich habe ihnen gesagt, sie sollen nicht schauspielern. Existieren, nicht spielen. Das ist sehr viel näher an Improvisation. Man hat den Blick auf die Bauweise des Stücks und die Charakterisierung der Personen. Deshalb durften sie auch nicht die Muster sehen.

Warum das denn?

Das ist nicht ihr Job. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sie darauf reagieren können: entweder denken sie, ich bin klasse, und sie werden schlechter, oder sie denken, ich bin schlecht, und werden ebenfalls schlechter. Eine Woche vor Drehbeginn bekommen sie das Buch, das müssen sie zweimal lesen, nicht mehr. Wenn wir mit den Aufnahmen beginnen, bekommen sie die Liste ihrer Auftritte. Kurz vorher lernen wir den Text, dann proben wir eine halbe Stunde, und es geht sofort, mit weniger als zehn Wiederholungen, in die Kamera.

Wie haben Sie ihr Leben zum Drehbuch verarbeitet?

Die Schwierigkeit bestand für mich in der Frage „Was soll ich weglassen?“ Der destruktive Einfluß meines Vaters war noch viel schlimmer, als im Film dargestellt. Hätte ich das alles noch hineingepackt, der Film wäre doppelt so lang geworden.

Wo kommt diese Destruktivität her?

Ich weiß nicht. Vielleicht hatte mein Vater eine üble Kindheit. Das war aber nicht unsere Schuld. Vielleicht kommt es auch daher, daß er sich selbst und die Welt nicht verstand. Jedenfalls kann man sein Verhalten nicht rechtfertigen. Es gibt junge Leute, die durch die Gegend laufen, Taschen klauen und Frauen vergewaltigen. Das ist für mich das gleiche, wie das Verhalten meines Vaters. Es ist barbarisch, und ich will das nicht verstehen. Die Opfer interessieren mich, nicht die Täter.

Hatten Sie also eine furchtbare Kindheit?

Verglichen mit meinen Brüdern und Schwestern nicht, weil mein Vater schon starb, als ich erst sieben war. Trotzdem waren das die Jahre der größten Verletzbarkeit, und er hat mir viele Neurosen und Narben hinterlassen. Er ist nicht alleine verantwortlich, aber er hat viel zur Zerstörung meines emotionalen Lebens beigetragen, so wie auch die Homosexualität und der Katholizismus. Diese drei werden mir mein Leben lang anhängen.

Es gibt kein Weg aus den Schädigungen durch den Vater?

Der einzige Weg ist, zu sterben. Ich bin trotzdem weder Fatalist noch Pessimist. Was mich verblüfft, ist, daß die Menschen trotz all dieser Scheußlichkeiten, immer wieder weitermachen können.

Welche Probleme machten Ihnen die Homosexualität und der Katholizismus?

Bis ich 22 war, habe ich wirklich geglaubt. Ich habe um Vergebung gebetet, als ich merkte, daß ich mich nicht von Frauen angezogen fühlte. Wie alle schwulen Männer mag ich die Gesellschaft von Frauen allerdings ausgesprochen gern. Ich habe mir also die Knie im Gebet wundgescheuert, bis ich gemerkt habe, daß diese Religion eine Lüge ist. Wenn man merkt, man hat an eine Lüge geglaubt, ist Wut die erste Reaktion. Was mir nach der Loslösung von der Religion übrigbleibt, ist „Du mußt“ und „Du darfst nicht“.

Und wohin gehört dabei die Homosexualität?

Ich fühle mich schrecklich minderwertig. Besonders in einer Gruppe von Männern. Ich will da immer nur weg. Das kommt aus diesen „Du darfst nicht“. Schuld daran ist aber auch das soziale Umfeld, aus dem ich komme. Man wurde dort verachtet, wenn man sanft war. Ich spielte nicht Football und ich hatte nicht den richtigen Akzent, ich war nicht tough, deshalb wurde ich verachtet. In der Schule wurde ich vier Jahre lang jeden Tag verhauen, ich habe mich nicht getraut, es jemand zu erzählen. Solche Erfahrungen senken Eisen in deine Seele. Als ich meinen ersten Film machte, war die Atmosphäre wieder ganz ähnlich, alle ließen mich spüren, daß sie es für reine Zeitverschwendung hielten, diesen Film zu machen.

Was haben Sie dagegen gesetzt?

Ich mache keinen Film, an den ich nicht absolut glaube.

Das klingt eher evangelisch als katholisch.

Es ist keins von beiden. Es ist ein ästhetischer Grundsatz: es ist besser, etwas Eigenes schlecht zu machen, als etwas Fremdes gut. Wenn ich nicht absolut davon überzeugt bin, daß ich etwas Bestimmtes machen muß, mache ich es nicht. Wenn du keine Leidenschaft für ein Projekt empfindest, dann laß es!