Das alltägliche Gesicht der Intifada

Das Leben in den israelisch besetzten Gebieten hat sich dem Rhythmus des Aufstands angepaßt Im Flüchtlingslager Shatti im Gaza-Streifen schlägt nachmittags die Stunde der Konfrontation  ■  Von Beate Seel

Die Sonne steht tief über dem Meer der Hütten und Häuser des palästinensischen Flüchtlingslagers Shatti im Gaza-Streifen. 49.000 Menschen leben hier in verwinkelten, sandigen Gassen auf engstem Raum zusammengepfercht. Mehrfach überpinselte Parolen zieren die Mauern. Unrat gibt es hier nicht. Selbst ein Fetzen Plastik, ein Stück Wellblech, ein altes Brett ist noch gut genug, um es für den Anbau einer kleinen Veranda oder eines winzigen zusätzlichen Zimmers zu benutzen. Auf dem zentralen Platz des Lagers haben sich an die 200 Jugendliche gesammelt. Einige halten einen Stein oder eine einfache Schleuder in den Händen: „Waffen“ der Intifada, des Aufstands der PalästinenserInnen in den israelisch besetzten Gebieten. Es ist Nachmittag, die Stunde der Konfrontation zwischen DemonstrantInnen und Soldaten der Besatzungsmacht. Sobald sich die erste Militärpatrouille nähert, wird das losgehen, was immer seltener unter der Bezeichnung „Unruhen“ in den Medien auftaucht.

Hier, in den Lagern des Gaza-Streifens hat vor einem Jahr die Intifada ihren Anfang genommen. Ein Funke - ein Autounfall, verursacht von einem israelischen Fahrer, bei dem vier palästinensische Arbeiter ums Leben kamen genügte, um nach 21 Jahren Besatzung, Unterdrückung, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit eine Bewegung zu entfachen, die die palästinensische Frage wieder auf die Tagesordnung hievte.

Die Formen des Aufstands haben sich geändert; fast tägliche Konfrontationen und die Selbstorganisation in den mittlerweile verbotenen Komitees haben die Massendemonstrationen und Straßenschlachten der ersten Monate abgelöst. Doch von ihrer ursprünglichen Kraft scheint die Intifada nichts eingebüßt zu haben. Das Leben hat sich längst dem Rhythmus von Streik und Generalstreik, den von der Untergrundführung angesetzten Aktionstagen angepaßt. Der Aufstand hat ein alltägliches Gesicht angenommen, das kaum noch für Schlagzeilen sorgt.

Zum Beispiel in Shatti. Ghassan, der zehn Jahre in israelischen Gefängnissen verbrachte und durch einen Austausch im Jahre 1985 freikam, erläutert den Tagesablauf: „Vormittags, zwischen 9 und 12 Uhr, gehen die Leute einkaufen oder erledigen Behördengänge. Das ist die festgesetzte Zeit für die Öffnung der Geschäfte und Ämter. Anschließend erledigt man private Besuche. Heute erledigen die Kinder ihre Hausaufgaben abends, wenn es dunkel ist. Der Nachmittag ist jetzt die Zeit der Konfrontation.“

Die ganze Familie drängt sich in dem kleinen „Salon“ zusammen. In einer Ecke stapeln sich die Matratzen für die Nacht, eine Schüssel Muluchiyeh, ein palästinensisches Nationalgericht, und Schälchen mit grünen Pfefferschoten und frischen Oliven lassen einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. „Die Militärverwaltung hat sich schon an uns gewöhnt“, witzelt Amir, Ghassans jüngerer Bruder, und zählt auf, welche Familienmitglieder im Zuge des Aufstands bereits im Gefängnis saßen: Seine Mutter war drei Monate inhaftiert, ein Bruder verbrachte 18 Tage im Gefangenenlager Ansar II, ein weiterer vier Monate. Alltag.

Auf die Frage nach den wichtigsten Veränderungen seit Beginn des Aufstands herrscht erst einmal Schweigen. Die Intifada ist so sehr zum Teil des normalen Lebens geworden, daß man erst nachdenken muß. Dann jedoch haben alle etwas beizusteuern: der Streik der Geschäftsleute, der schon seit einem Jahr andauert. Das gestiegene Selbstbewußtsein. Die Opferbereitschaft. Der Wille, den Aufstand weiterzuführen, bis das Ende der Besatzung erreicht ist. Die Ausrufung des Staates Palästina. Die Einheit. Die Selbstorganisation in den Komitees. Die Tatsache, daß ein Drittel derer, die in Israel arbeiten, nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz erscheinen. Der Boykott israelischer Waren. Die internationale Reaktion.

Laila, die Schwester von Ghassan, berichtet über die Beteiligung der Frauen. „In den letzten Monaten haben deutlich mehr Mädchen und Frauen auch an den direkten Konfrontationen mit den Soldaten teilgenommen, auch Frauen über dreißig. Die Frauenorganisationen besuchen Verletzte in den Kliniken oder Leute im Gefängnis. Das hat zur Folge, daß die patriarchalische Tradition aufweicht. Frauen gehen eher auf die Straße und beteiligen sich an den verschiedenen Aktivitäten. Das Besitzdenken der Väter gegenüber den Kindern hat sich relativiert. Früher durften die Kinder nichts ohne die Zustimmung des Vaters machen. Aber jetzt tolerieren sie, daß die Kinder auf die Straße gehen.“

Laila ist 21 Jahre alt und arbeitet in einem Kindergarten in der Stadt Gaza. Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der Frauen, die man in den Straßen sieht, trägt sie nicht das islamische Kopftuch, den Hejab. Gaza gilt als Hochburg der verschiedenen fundamentalistischen Strömungen. Stehen ihre Äußerungen über den neuen Freiraum der Frauen nicht im Widerspruch zu dieser Entwicklung? „Nicht unbedingt“, meint sie. „Zunächst einmal muß man sehen, daß die Fundamentalisten nicht etwas Neues einführen, sondern eine schon vorhandende Tradition wiederbeleben wollen. Vor einigen Monaten konnte man überall in Gaza Parolen lesen, in denen Frauen bedroht wurden, die nicht das Kopftuch tragen. Mich haben zum Beispiel einmal zwei Männer wegen meiner Kleidung angemacht und gesagt: 'Sind wir etwa nicht im Aufstand?‘ Ich habe geantwortet: 'Warum sagt ihr das ausgerechnet jetzt, warum habt ihr das früher nicht gesagt? Machen wir einen nationalen oder islamischen Aufstand? Meine Kleidung hat nichts mit meiner Haltung zur Intifada zu tun.‘ Aber heute sieht man solche Parolen kaum noch.“ Sicher, all ihre Freundinnen und Bekannten tragen kein Kopftuch. Das mag Laila vielleicht zu einer etwas zu optimistischen Einstellung veranlaßt haben.

Ihr Bruder Amir hat sich mittlerweile zu seinen Freunden auf die Straße gesellt, nachdem das Gerücht auftauchte, israelische Soldaten seien im Lager gesichtet worden. Das Katz-und-Maus-Spiel, so will es scheinen, ist ungeachtet der Opfer zu einem täglichen Ritual geworden.

Was denkt Ghassan darüber? Hat er sich nicht an die Präsenz der Patrouillen gewöhnt? „Im Gegenteil“, sagt er. „Was soll man als Besetzter schon dabei empfinden, wenn man eine Patrouille sieht? Ein Gefühl der tiefen Ablehnung. Je öfter ich sie sehe, desto tiefer geht es.“

An diesem Punkt mischt sich der Vater von Ghassan, Laila und Amir ins Gespräch. „Was haben wir vor 40 Jahren erreicht? Nichts. Was haben die arabischen Staaten für uns getan? Nichts. Wir haben gewartet - was ist geschehen? Nichts. Unsere Jungen und Mädchen werfen heute mit Steinen. Was sollen sie sonst machen? Wir haben niemanden, der uns hilft. Ich bin 60 Jahre alt, und ich wurde auch einmal zusammengeschlagen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als unsere Sache in die eigene Hand zu nehmen. Der Aufstand wird weitergehen, bis die Besatzung beendet ist und wir unseren eigenen Staat haben, an der Seite Israels. Es gibt keinen Weg zurück.“