GASTKOMMENTAR
: Die Waffen nieder!

■ Gorbatschows Abrüstungsrevolution

Jetzt kommt der bedrohlichste Schlag der Bolschewisten – sie rüsten ab, und Zweifel daran sind aus Gründen der Bündnistreue nicht erlaubt: Eben hingen die amerikanischen Verbündeten einen Spionagesupersatelliten an den Himmel, von dem triumphal verkündet wurde, er überschaue 80 Prozent des sowjetischen Territoriums, und das sogar durch Wolken. So kann der Westen also genau kontrollieren, wie die Rote Armee sich um Streitkräfte in Stärke der ganzen Bundeswehr verringert. Gorbis Dezemberrevolution von 1988 macht die Amerikaner a) froh und b) verlegen, die Franzosen mürrisch und Frau Thatcher sauer.

Kohl & Honecker aber lächeln dünn und gesamtdeutsch. Honecker, weil er sich gegen Osten einmauern muß, Kohl, weil seinen Bundesdeutschen das langgehegte Feindbild abhanden kommt. „Wofür Raketen, wenn das Feindbild fehlt?“ orakelte der 'Rheinische Merkur' am 11.November, die deutsche Volksseele zitierend, und: „Es müssen Bedingungen denkbar sein, unter denen sich der Entschluß einer angegriffenen Demokratie zum tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen rechtfertigen läßt.“

Die Väter rechtfertigten Hitlers Krieg, die Söhne den Atomkrieg. Wer da nicht verweigert, macht sich mitschuldig. Was aber, wenn die Sowjets hinterhältig abrüsten bis zur Angriffsunfähigkeit? In der 'FAZ' geht schon Friedensangst um: „Einem abrüstungsbegeisterten Publikum muß erklärt werden, daß öffentliche Angebote sorgfältiges Verhandeln nicht ersetzen können...“ (8.12. 88) Und was muß abrüstungsunwilligen Publizisten, Politikern und Militärs erklärt werden? Vielleicht die historische Notwendigkeit, den Sowjets zu verzeihen, daß wir sie 1941 überfielen und sie uns 1945 besiegten. Die BRD hat verdammt stichhaltige Gründe, statt des Angriffs aus dem Osten die Explosivkraft der eigenen Nuklearindustrie zu fürchten.

Gorbatschows Abrüstung signalisiert den sinkenden Prestige und Marktwert des armen, bedauernswerten Soldatentums. Hilfswillige Kriegsdienstverweigerer werden gebraucht für psychologische Betreuung abrüstungsgeschädigter Militärs. Vielleicht sollten wir Politiker rotieren lassen: Gorbi in Bonn machte Generale arbeitslos, aber unsere Scholz und Wörner in Moskau entdeckten dort gewiß schnell Nachrüstungslücken. Was also tun? SPD und Grüne sollten die Abrüstung zum Wahlkampfthema Nummer eins machen. Die abgeschlaffte Friedensbewegung darf sich mobilisieren, denn Gorbis Revolution braucht Solidarität in Ost und West. Bleibt die Frage, was die über unseren Köpfen tieffliegenden Jagdmaschinen im Osten eigentlich angreifen sollen, wenn dort die Panzer abrollen.

Lassen wir bei uns auch sechs Panzerdivisionen verschwinden. Drei amerikanische und drei bundesdeutsche. Verlangen wir die dritte Null-Lösung, Vernichtung aller Massenmordwaffen, Einschrumpfung beider deutscher Armeen auf Reichswehrstärke von je 100.000 Helmen. Schaffen wir die Fallschirmjäger ab, sie dienen nur zum Angriff. Und die Gebirgsjäger. Nicht der Kaukasus und nicht der Ural müssen erobert werden. Erstmals seit dem Krieg bestehen echte Abrüstungschancen. Nutzen wir sie. Das ist besser, als das Land jenen Vollidioten zu überlassen, die den „tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen rechtfertigen“, ganz als wär's nur die V1, von der schon Werner Höfer sang, bis ihm die Stimme brach.

Gerhard Zwerenz, Schriftsteller