Gorbatschow auf dem Weg zur Weltregierung

■ In seiner Rede vor der UNO betonte Gorbatschow Abrüstung und Ökologie als Probleme der Weltgesellschaft

Jetzt hat der Umbau in der Sowjetunion auch die Armee erreicht. Und hier heißt Umbau vor allem Reduzierung, und zwar zunächst um 500.000 Mann. In der Armeeführung scheinen die neuen Priori täten - Butter statt Kanonen - nicht ausschließlich auf Begeisterung zu stoßen. Jedenfalls trat am gleichen Tag, als Michail Gorbatschow vor der UNO die einseitige konventionelle Abrüstung verkündete, der sowjetische Generalstabschef, Marschall Sergej Achromejew, zurück. Die offiziell genannten „Gesundheitsgründe“ werden nicht von allen geglaubt. - Mehr Probleme noch scheint die Nato mit Gorbatschows Tempo zu haben - trotz allen freundlichen Lobs für Gorbatschows Vor leistungen: Gerade im konventionellen Bereich will die Nato sich nämlich lieber mit symbolischer Abrüstung begnügen, um nicht ihre neuen Lieblingsprojekte wie beispielsweise LeopardII, den Jäger90 und die sogenannten „Abstandwaffen“ zu gefährden.

Als Michail Gorbatschow am Mittwoch vor die Mikrophone im Sitzungssaal der Vereinten Nationen trat, kam er ohne Umschweife zur Sache: Kurz vor dem Eintritt in das 21. Jahhundert stünden die Menschen - und zwar alle, unabhängig von ihrer Nationalität und ihren politischen Systemen - vor Problemen und Herausforderungen, die weder von einem einzelnen Staat noch von einer Staatengemeinschaft oder den unterschiedlichen politischen Systemen allein gelöst werden könnten. Die drohende ökologische Katastrophe decke die Widerprüche und Grenzen der „Industrialisierung traditionellen Typs“ auf. Die Kluft zwischen den Industrie und den Entwicklungsländern werde zu einer immer größeren Gefahr. Diese Realtiäten zwängen, sagte Gorbatschow, zu einer „prinzipiell neuen Art des industriellen Fortschritts“, sie zwängen zum Umdenken in allen Bereichen und allen gesellschaftlichen Systemen: „Das Leben zwingt uns, gewohnte Stereotypen, veraltete Anschauungen abzuwerfen und sich von Illusionen zu befreien.“ Die Klischees des Systemkampfes müßten fallengelassen werden, die Illusion, Rüstung bringe Sicherheit, müsse durch die Fähigkeit, „nebeneinander zu leben und dabei verschieden zu bleiben“, abgelöst werden. Mit den alten Rezepten und Ideologien sei der Weg ins 21. Jahrhundert nicht zu schaffen. Und: „Natürlich erheben wir keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit.“

In dieser Situation müßte die Rolle der Vereinten Nationen als des einzigen übernationalen Instruments der gesamten Menschheit gestärkt werden. Gorbatschow sieht schon jetzt in dieser Organisation, die während des „kalten Krieges“ zum „Austragungsort propagandistischer Schlachten“ degradiert war, eine Möglichkeit, die akutesten Probleme der Weltgesellschaft zu diskutieren und in Zukunft auch zu lösen.

Ansätze für die sich jetzt abzeichnende Stärkung der Rolle der Weltorganisation seien schon jetzt vorhanden und hätten sich gerade bei der Lösung der „regionalen Konflikte“ zum Beispiel in Afghanistan gezeigt. Doch auch bei dem Verschuldungsproblem könnte die UN eingeschaltet werden. Die Sowjetunion sei jedenfalls bereit, alle Initiativen zu unterstützen, die in Richtung Entschuldung der Entwickungsländer führten. Gorbatschow rief die Vereinten Nationen dazu auf, auch bei den ökologischen Problemen initiativ zu werden: „Hier möchte ich erneut mit Nachdruck die Möglichkeiten unterstreichen, die sich im Prozeß der Abrüstung, in erster Linie natürlich der nuklearen, für eine ökologische Wiedergeburt eröffnen.“ Die Sowjetunion sei bereit, mit ihrer Weltraumforschung in dieser Richtung zu arbeiten. Ausdrücklich schloß Gorbatschow die vom Westen als Schaltstelle des sowjetischen „SDI„-Projekts bezeichnete Radarstation in Krasnojarsk in solche Forschung ein. Die Sowjetunion lade die Wissenschaftler aus aller Welt dazu ein, herauszufinden, wie durch „Demontage und Umgestaltung einzelner Vorrichtungen und Ausrüstungen“ diese Station „in ein internationales Zentrum für die friedliche Zusammenarbeit“ umgewandelt werden könne. Der Generalsekretär der KPdSU sprach auch die Problematik der Menschenrechte in seinem Land an. Und explizit versprach er, daß im Zuge der Rechtsreform in der Sowjetunion bereits 1989 Gesetze in Kraft treten würden, die die Rechte des Individuums garantierten und „sämtliche Arten der Verfolgung“ aus „politischen und religiösen Motiven ausschließen“. „In humanitärem Geist“ sollen die Probleme der Ausreise und der Familienzusammenführung gelöst werden. „Wenn Streitigkeiten entstehen, kann laut Gesetz Beschwerde eingelegt werden.“ Höhepunkt der Rede war die Ankündigung, den Personalbestand der Roten Armee einseitig um 500.000 Mann zu reduzieren, 10.000 Panzer, 8.500 Systeme der Artillerie, 800 Kampfflugzeuge und 50.000 Mann aus der DDR, der CSSR und Ungarn binnen zweier Jahre zurückzuziehen. Die Rede liest sich in vielen Punkten wie ein Forderungskatalog unabhängiger Friedens-, Ökologie und Menschenrechtsgruppen. Den Politikern im Westen wird sie einiges Kopfzerbrechen bereiten. Was wäre, wenn Gorbatschow nun auch noch feministische Forderungen unterstützen und gleich die Abschaffung der Atomenergie fordern würde?

Erich Rathfelder