DER ERSTE KUSS

■ The Flaming Lips im Ecstacy

Rumstehen, Blicke schicken. Ihr habt euch nie zuvor gesehen. Der erste Blick, Augen wie Saugnäpfe. Wegsehen, irritiert. Der zweite Blick, ungläubig, daß sich die Augen wieder treffen, wieder und wieder. Jeder Blick wird länger und intensiver. Der erste Kuß, hart und kurz und überrascht über die eigene Gedankenlosigkeit. Flaming Lips.

Eigentlich sollte Musik immer sein wie der erste Kuß, der allererste. Eigentlich kennt man Lippen, weiß wie sie schmecken, sich anfühlen auf den eigenen, aber doch sind alle anders, manche sind zu weich, manche zu hart, alle haben ihren eigenen Duft, haben andere Riefen, die noch zu entdecken sind, und der erste Kuß hat immer etwas Magisches: Neues zu spüren, zu entdecken, Neues zu erobern. Flaming Lips.

Ein ewiges Zerren an der Struktur, an der Ballade, am Speed -Song, ohne sie zerstören zu können, zerstören zu wollen. Immer wieder der Versuch, der scheitern muß, scheitern soll, aber es wird versucht - mit einem Lächeln auf den Lippen. Soviel Leidenschaft, die zu vielen fehlt und zugleich Coolness, die doch immer grinst über sich selbst auf der Bühne und in jedem Lied die ironische Selbstdistanz. Und ich kriege zum ersten Mal das Bedürfnis nach Headbanging. Warum wachsen meine Haare so langsam? Flaming Lips.

Die Coverversionen mit Bedacht geschmacklos gewählt. What's so funny about peace, love and understanding von Elvis Costello oder doch von Billy Bragg, fragt sich selbst der Sänger - ein voll- und zugeschrammeltes Inferno. Who do you love. Von Bo Diddley bleibt nicht mal so viel übrig, daß Copyright-Bürokraten ins Nachdenken kommen würden.

Gute Musik reproduziert nicht Gefühle oder ruft längst vergangene Gefühle in die Erinnerung zurück, sondern löst Gefühle aus, und wenn es nur das selige Gefühl beim Badewannenmitsummen ist. Flammendes Herz. Flaming Lips.

Dies war das beste Konzert, das ich dieses Jahr gehört habe. Und: die Zukunft des Rock 'n‘ Roll heißt definitiv nicht Bruce Springsteen.

Thomas Winkler