TRAUERARBEIT MACHT FREI

■ Wolfgang Neuss live in der UFA-Fabrik

Ist ja wattstraßenvoll hier. Wolfgang Neuss steht auf einem Podest im überfüllten großen Kino der UFA-Fabrik, klein, schmächtig und freundlich, Buch in der Linken, aus dem er am Ende sein Gedicht Happy End Auschwitz vortragen wird; im Foyer drängen sich unfroh die Umsonst und Zuspätgekommenen und trollen sich mürrisch heimwärts, und wie es sich für ein linksalternativ-humanistisches Publikum gehört, vernimmt man auch Sätze wie diesen: „Ach egal, wenn er bald stirbt, seh ich ihn mir eben in der Aufzeichnung an.“

Das Publikum bekommt, was es verdient: Neuss‘ freifliegenden monologischen Diskurs zum Thema sensibler Antifaschismus , von Helmut Schmidtler über Jenninger (Weizsäcker müßte dieselbe Rede noch einmal langsam sprechen.) bis hin zum „Fasischiismuus„- (E. Honecker) Debättchen in der taz. Neuss ist kein befriedeter linker Leihopa, der zum 65. noch mal einen auf dufte macht, und vor allem ist er kein Kabarettist, kein Schweinchen-Schlau -Vorturner, kein mit moralischen Selbstverständlichkeiten wichtigwedelnder Anbiederer: Neuss ist nicht konsensfähig, nicht mal bei „seinem“ Publikum. Schnell und sprunghaft entwickelt er seine Gedanken, treibt sie im Sprechen weiter, wechselt fliegend die Ebenen, deliriert frei, den doppelten Rittberger im Kopf, und stiftet nicht dumpfen Sinn, sondern erhellende Verwirrung, produziert Fragen, nicht Antworten. Wolfgang Neuss ist nie U-Bahnhof Volta- (bzw. Folter-) Straße ausgestiegen, trotzdem weiß er genau, was in der taz los ist: Wenn mein Freund Bröckers schon keine Lust mehr hat, dann ist es wirklich schlimm... Die schmeißen alles raus, was lebendig ist, farbig und immer noch links... Zum derzeitigen Zeitpunkt ist es ein Akt des Antifaschismus, ein Wort wie „gaskammervoll“ in der taz zu schreiben.

Das Publikum ist nicht gerade glücklich mit solchen Äußerungen, Neuss bietet keinen gemeinsamen Feindbild -Omnibus an, in den alle bequem einsteigen können, und in dem er dann den Fahrer und Schaffner mimt; ja, Sie da, mit den blonden Haaren und den blauen Augen, wissen Sie eigentlich, daß Sie Israeli sind?

Neuss gestikuliert behende und lebhaft, lächelt, lacht, genießt es, auf der Bühne zu stehen und schafft es, nicht den Einpeitscher zu machen, den Festklopfer, den Betonierer

-ganz im Gegensatz zur taz, (und nun folgen die altbekannten drosteschen Anpissereien, die die Zeitung ja soooo lebendig werden lassen - d. Korr.in) die sich ihre Kündigungen nachträglich von sog. „Externen“ legitimieren läßt, allen voran von der literarischen Flachkraft P. Biermann, deren durchaus verzichtbares Buch zur Prostitution man sehr wohlwollend auf die Formel „Lauf nicht beim Luden“ bringen könnte, und deren kriminalromantisches Wirken so mühevoll ist, daß sie zum Zweitberuf der Top-Moralistin greifen muß, um der Trauerarbeit-macht-frei-Kolonne um Tränengaserow, Tor NO und Haltung ihre Aussitz-Lüge festzuschreiben. Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen.

Warum haben wir 1945 nicht einfach 100 SS-Leute aufgehängt, in Bergen-Belsen zum Beispiel, sie hinterher ausgepeitscht undsoweiter, und das live im Fernsehen übertragen, damit jeder sieht, was mit Faschisten passiert? Warum nicht? Wir haben es nicht gemacht. Wir haben Opfergeld genommen, wir haben uns unseren Antifaschismus bezahlen lassen. Wir brauchen einen anderen, einen sensiblen Antifaschismus, es ist gut, daß die Aufgabe da ist, wir müssen uns daran abarbeiten, wir müssen die Faschisten eingemeinden, damit sie nicht mehr gefährlich sind.

Dann steht er da, der freundliche Mann mit dem Faltenmondgesicht, keine Zähne mehr, aber mit Biß genug, es mit uns allen aufzunehmen, uns alle in sich aufzunehmen. Und das haben wir auch bitter nötig.

wiglaf droste