U-Bahn im Samba-Fieber, Gummibärchen gratis

■ Auch Berliner U-Bahnhöfe blieben gestern nicht vom Uni-Streik verschont / Motto: Studien der Realität auf den Linien 1/4/7 und 9

„Uni in der U-Bahn“, buchstabiert der kleine Junge mühsam, bevor ihn seine Mutter einfach weiterzerrt. „Die sind doch alle zu faul zu arbeiten“, kommentiert ein bodybuilding -gestählter Jung-Berliner und schultert kopfschüttelnd seine Sporttasche.

Von wegen faul! Auf rund 24 U-Bahnhöfen der Linien 1, 7, 9 und 4 wurde gestern nachmittag nicht etwa gefaulenzt, sondern autonom oder mit Dozenten-Hilfe studiert und protestiert: „Jetzt sind wir am Zug, wir wollen studieren, aber nicht so.“ Bitte Einsteigen und Türen schließen!

14 Uhr vor dem Bahnhof Zoo: “...ist dies als Strukturmerkmal der radikalen Demokratie anzusehen: Chancengleichheit für alle...“ Der Rest der professoralen Worte wird von einem abbiegenden BVG-Doppeldecker verschluckt. Auf dem Hardenbergplatz versuchen rund 150 StudentInnen der Vorlesung von Professor Volker Fadinger über die attische Demokratie zu folgen. StudentInnen verteilen „Gummibärchen für alle“ und Flugblätter „Warum wir Studies“ streiken an Passanten.

Die nächste U-Bahn fährt in Richtung Schlesisches Tor. Im U -Bahnhof Kurfürstenstraße haben HdK-StudentInnen ihre Staffeleien aufgebaut: „Studium der Realität in U -Bahnhöfen“, heißt das Thema. Mit schnellem Kreidestrichen werden Fahrgäste, Mitstudenten und Ordnungshüter aufs Papier geworfen.

Der U-Bahnhof Möckernbrücke ist ebenfalls in der Hand von Studies. HdK-StudentInnen vom Fachbereich „Gesellschafts und Wirtschaftskommunikation“ entwerfen ein Werbekonzept für einen Studentenstreik. „Wir brauchen noch einen Eye -Catcher“, heißt es, und ein anderer wirft ein: „Was haltet ihr von dem Slogan ‘Studenten sind faul!?“

Im Übergang zur Linie 7 hat sich ein Romanistik-Seminar, vertieft in französische Übersetzungs-Übungen, niedergelassen.

Umsteigen zur Linie 7: Auf dem U-Bahnhof Kleistpark stoße ich auf das autonome Seminar „Strukturalistische Theorie“. Seminargrundlage ist heute der Text „die strukturalistische Tätigkeit“ von Roland Barthes. „Wir haben nämlich an unserem Fachbereich kein Strukturalismus-Seminar“, erklärt eine Studentin. Ein anderer rät mir: „Fahr mal drei Stationen weiter, zu den Lateinamerikanisten. Da ist ganz tolle Stimmung.“ Und tatsächlich: der ganze U-Bahnhof Berliner Straße singt im Samba-Rhythmus: „Die Studies muß man sehen, die Studies muß man hören“, skandieren die Tanzenden im Chor, und die Passanten wippen ein bißchen mit, während die StudentInnen ihnen zu erklären versuchen, warum sie eigentlich streiken. Nur der Mann vom BVG-Ordnungsdienst verzieht natürlich keine Miene.

Frauke Langguth