Klage eines armen Linksintellektuellen

■ Der 1897 geborene Autor gilt als der bedeutendste Psychoanalytiker Italiens

Cesare Musatti

Die Intellektuellen, ich spreche von denen, die Politik machen, sind ganz besondere Individuen. Sie ähneln jenen Philosophen des Mittelalters, die sich auf die doppelte Wahrheit des Glaubens und des Verstandes beriefen: Veritas secundum fidem et veritas secundum rationem. Das war bei ihnen keine Heuchelei und ist es auch bei uns und unseren Zeitgenossen nicht. Vielmehr ist es eine bestimmte Art zu denken, die die zwei Arten, die Dinge zu betrachten, einander kompatibel und gleichermaßen anwendbar macht, und zwar beide Male nach bestem Wissen und Gewissen. Als würden diese einmal aus der Ferne betrachtet und ein anderes Mal von einem gewöhnlicheren Gesichtspunkt aus. Als benutzte man jene Brillengläser mit zweifacher Brennweite, bei denen es genügt, die Blickrichtung zu wechseln, um eine Änderung der Sicht herbeizuführen.

Und wie die Träger solcher Brillen benutzen auch wir die unseren gleichsam automatisch, ohne eigens darauf zu achten, wenn wir etwa den Blick heben, um durch die obere Linse das ganze Panorama zu erfassen, oder wenn wir umgekehrt, den Blick senkend, uns den Vergrößerungen des unteren Kreisrunds zuwenden. Diese doppelte Sehweise hat in der Politik ihren Sinn, wenn es darum geht, sich an eine Konzeption der Realität und der Geschichte zu gewöhnen, die wesentlich auf die Zukunft der Welt ausgerichtet ist. Auf diese Weise wird solch eine Vision in eine optimistische und progressive Konzeption, um nicht zu sagen, in eine messianische Erwartung übersetzt: Auch wenn alles dem zu widersprechen scheint, ist die Zukunft doch da, greifbar knapp hinter dem Horizont.

Kürzlich beschäftigte mich ein theologisches Problem weniger aus religiösen Gründen, die mir fremd sind, als vielmehr aus einem psychologischen Interesse. Es betrifft die Kardinaltugenden, von denen, wenn ich nicht irre, Paulus als erster spricht, und zwar im ersten Korintherbrief (XIII, 13). Ich wollte wissen, welchen Platz zwischen dem Glauben der zwangsläufig obersten religiösen Tugend - und der Liebe oder Barmherzigkeit -, von der es bei Paulus heißt, sie sei „von den drei Dingen“ das höchste, - die Hoffnung einnimmt. Die Hoffnung, die mir, einem theologischen Laien, einen profanen, individualistischen Status zu beanspruchen scheint, und jedenfalls nicht den einer Kardinaltugend. Genau besehen ist sie ja nichts anderes als der Optimismus. Optimismus für alle. Für uns selbst, für die Menschheit, für die Welt.

Also: Dank der unterschiedlichen Brennweiten unserer Gläser sind wir imstande, in die Ferne zu schauen, voller Optimismus. Ohne uns die Möglichkeit zu nehmen, den Blick zu senken, wann immer wir wollen, auf die nähere, in gewisser Weise wirklichere und jedermann zugänglichere Realität.

Ja, wir, die wir - mal abfällig, mal wohlwollend Linksintellektuelle genannt werden, haben jahrzehntelang mit dieser doppelten Brille gelebt: treu einer früh beschlossenen, nie aufgegebenen Parteinahme (ex oriente lux), allen Fehlentwicklungen unserer Sache zum Trotz. Aber was konnten wir schließlich erwarten? Wo es auf den russischen Feldern vor einem Jahrhundert noch Leibeigene gab? Gemessen daran haben jene Völker einen gewaltigen Sprung vollbringen müssen. Und sie haben es ohne den Einfluß der englischen Revolution oder des habeas corpus getan. Auch ohne Sanskulotten oder Freiheitsbäumen. Die Ereignisse haben eine im Vergleich mit den Vorhersagen der sozialistischen Propheten bekanntlich entgegengesetzte Wendung genommen. Nicht in den bürgerlich regierten, hochentwickelten Industrieländern setzte sich die sozialistische Revolution durch, sondern in einem Bauernland.

Noch bis vor wenigen Jahren konnte man sich bei einem Gang durch Moskau vergewissern, daß diese große Metropole überwiegend von Bauern bewohnt wird, die erst vor weniger als einer Generation ihr Land verlassen haben. Und dann der Krieg, der Millionen Opfer forderte, um der militärischen Übermacht des Aggressors zu begegnen. Man mußte den Dingen Zeit lassen. Auch eine Diktatur. Aber eine, von der man sich einbilden konnte, sie würde eines Tages zur Diktatur des Proletariats werden und nicht zu der einer Klasse von Bürokraten. Gewaltige Mißverhältnisse: Versorgungsschwierigkeiten einerseits, fortgeschrittenste Technologien andererseits, die mit amerikanischen wetteifern konnten und immer noch wetteifern. Um den Preis ungeheurer Opfer und angesichts der Schwierigkeiten, das Volk rapide an neue Lebensformen zu gewöhnen. Man kann das nicht vergleichen und man sollte es auch nicht tun. Was nicht bedeutet, daß man nicht gewußt hat, daß vieles eine falsche Wendung genommen hatte. Aber dies Wissen hinauszuposauenen scheint nicht angebracht, da es unserer Arbeiterschaft geschadet hätte, die an die Sowjetunion glaubte und bereit war, Fehlentwicklungen hinzunehmen und sie den großen Problemen anzulasten.

Die Linie, die zu verfolgen war, ergab sich auf einer viel oberflächigeren Ebene ohnehin von selbst: Die Herrschenden hierzulande stehen auf der Seite Amerikas, eines scheinbar fortgeschrittenen Landes, dessen Gebrechen nicht so offen zutage liegen; das andere Völker ausbeutet und auf seine Weise den Kolonialismus fortsetzt. Auch wenn uns daher bewußt war, daß ein Blick nach unten auf die sowjetischen Verhältnisse uns Unerfreuliches offenbart hätten, zogen wir es vor, nicht daran zu denken und lieber den Blick nach oben in die Ferne einer sozialistischen Zukunft zu richten. So haben die Linksintellektuellen bei uns gelebt. Nicht gut, bedenkt man, was wir alles haben schlucken müssen. Und alle paar Jahre tauchten neue berunruhigende Fakten auf, uns vor den Kopf zu stoßen, in der Regel gerade dann, wenn Wahlen anstanden. Und was zählten Wahlen in unserem Lande angesichts der Zukunft der Welt? Jener Zukunft, die, wie langsam auch immer, den Sozialismus hätte bescheren sollen?

Als Chruschtschow uns jenen bösen Streich mit dem XX. Parteitag spielte (und ich erinnere mich noch, wie Concetto Marchesi, weiß Gott kein auf den Kopf Gefallener, gegen Chruschtschow wütete), haben wir auf Maos China gesetzt; aber das hat auch nicht funktioniert, so daß sich unsere Hoffnungen alsbald auf Cuba richteten, dem Land, in dem wir uns zuhause fühlten, wo es die denkbar größte Rassenvermischung gab, einschließlich des lateinischen Elements, und das uns charismatische Figuren bot. Nach und nach erlosch unser Enthusiasmus. Dafür blieb die zweite Kardinaltugend rege. Oberhalb der unteren Linse gab es immer noch eine Zukunft anzuvisieren. So gewöhnten wir uns diese doppelte Sicht der Dinge an. Wohlgemerkt, es war keine Heuchelei. Oder, wenn es doch eine war, so doch eine ganz besondere, eine sozusagen professioneller Art: eben die von Intellektuellen, die das Studium der Geschichte gelehrt hat, die Fakten losgelöst von ihrer Aktualität zu betrachten nach ihrem Stellenwert im Verlauf der Jahrhunderte und Jahrtausende und ohne die Voreingenommenheiten der Gegenwart. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil unsere Funktion in der Gegenwart eine eher drittrangige ist: die einer zwar nützlichen, aber doch letztlich parasitären Klasse, die auf Kosten derjenigen lebt, die die einzig wahren Produzenten von Gütern sind, also der Arbeiter im engeren Sinne.

Und auf einmal wirft die größte Partei der Arbeiterklasse fast ohne Vorwarnung alles über den Haufen, was bis dahin für heilig gegolten hatte. Zunächst mit der Erklärung, daß die Oktoberrevolution den Antrieb verloren hat, den sie fünfundsechzig Jahre lang für die Arbeiterklasse gehabt hatte. Das waren zwei Drittel des Jahrhunderts, für Leute meines Alters das ganze erwachsene Leben. Dann der andere Schlag: die Spaltung von Livorno, für uns Italiener zweifellos ein Fehler. Aber wußten wir das nicht damals schon?

Schließlich haben wir die Sozialdemokraten nicht unterstützt, so wie wir jetzt Craxi nicht unterstützen, der zu den Zeiten Livornos noch nicht einmal geboren war. Auch wenn wir mit dem sozialistischen Parteibuch herumlaufen; aber dieser Ausweis zählt soviel wie der für die Straßenbahn, den man jedes Jahr erneuern muß. Wir sind auf unseren Plätzen geblieben, der eine etwas weiter vorn, der andere weiter hinten: ein Heer von Versprengten, die gleichwohl nicht als Deserteure gelten möchten und die, auch wenn die Linsen sich im Laufe der Zeit immer mehr beschlagen, weiterhin diese Brillen mit doppelter Brennweite benutzen.

Solche Überlegungen gelten natürlich nur für diese seltsame Spezies von Individuen, die Linksintellektuellen eben. Ich persönlich jedenfalls bin mir nicht bewußt, jemanden getäuscht zu haben. Die doppelte Sicht habe ich mir zwar auch zu eigen gemacht, aber für mich selbst. Um mein Gewissen zu beruhigen. Um die Realität anzuerkennen und zugleich jene zweite „Sache“, von der Paulus spricht, und deren Notwendigkeit ich spüre, mir im Herzen zu bewahren. Schließlich hat auch das Christentum die Welt nicht gleich zu ändern vermocht, in den ersten Jahrhunderten, wie es versprochen hatte. Etwas hat sich trotzdem geändert, durch all das Grauen und die Massaker hindurch. Wir müsen einsehen, daß wir uns in einer Epoche der Weltgeschichte befinden, die nicht ganz unähnlich derjenigen der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung ist.

Sicher, für all jene, die wir als Intellektuelle bezeichnen, mögen solche Überlegungen von Interesse sein. Was aber ist mit der arbeitenden Bevölkerung? Ich meine die wirklichen Arbeiter? Weniger die jungen als vor allem jene Alten, die sich noch an die Gründung des PCI erinnern? Und die (lassen wir Kämpfe, Opfer und Verfolgungen einmal beiseite, beschränken wir uns auf die innere Einstellung) an die Partei geglaubt haben?

Die Führung des PCI, - von welcher sie Urteile, Direktiven, Zielsetzungen zu empfangen gewohnt waren - diese Führung eröffnet ihnen in aller Seelenruhe, als ob nichts gewesen wäre: „Wir haben alles falsch gemacht.“

Ich muß zugeben, daß ich nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. Nicht meinetwegen, ich wußte davon bereits. Aber für den Genossen Arbeiter, für meinen Altersgenossen, der, wenn er nicht schon unter der Erde liegt, gleichwohl mittlerweile erledigt ist, verbraucht von der Mühsal des Lebens. Der nicht, wie ich, seine Existenz am Katheder oder am Schreibtisch verbracht hat mit dem, was ihm Spaß machte im Land der bürgerlichen Freiheiten. Er, der Arbeiter, hatte nicht die doppelte Brille bei sich. Er, der eine einzige Vision hatte, muß sich im Innersten verraten fühlen. Ohne auch nur genau zu wissen durch wen. Es ist, wie wenn ein guter Mensch, der Zeit seines Lebens gläubiger Christ war, am Ende seiner Tage den Priester rufend von diesem zu hören bekäme: Ach was, letzte Ölung! Von wegen Generalbeichte und heilige Kommunion! Das war doch nur ein Scherz! Das haben wir dir nur erzählt, um dich bei Laune zu halten. Und jetzt geh ruhig, mach schon. Stirb in Frieden. Jenseits des Todes gibt es eh nur das Nichts. Natürlich kann man dafür jede Menge Rechtfertigungen vorbringen. Nicht, daß ich das nicht wüßte. Aber wie soll man ein Individuum dazu bringen, sein ganzes Leben auszulöschen! Ich verstehe jetzt auch jene Faschisten und Nationalsozialisten, die sich im Augenblick des Zusammenbruchs das Leben genommen haben. So wie es Freunde und Genossen zuvor getan hatten, als derselbe Faschismus und antisemitische Nazismus an die Macht gekommen war. Ich denke, für die einen wie für die anderen ging es nicht primär darum, sich mit dieser Geste den drohenden Repressalien und Verfolgungen zu entziehen. Vielmehr wurde ihnen der Gedanke an ein Leben unerträglich, dem alle Werte abhanden gekommen waren, an denen es sich orientiert hatte. Nein, dergleichen wird sich jetzt nicht wiederholen: weil die Verratenen der Spaltung von Livorno mittlerweile viel zu alt sind und ihre Bitterkeit in sich hineinfressen. Ich fühle jedoch ein großes Unbehagen ihretwegen.

So hat es mich ein wenig getröstet, daß ausgerechnet in jenen Tagen Pertini (der doch nie ein Kommunist gewesen ist und seinen eigenen Weg zum Sozialismus fand) mit einer ebenso liebenswürdigen wie subtilen Ironie Camilla Cederna, eine der wenigen Überlebenden von Livorno, zur Senatorin auf Lebenszeit ernannt hat. Eine, die von Stalin immer noch sagt: „Er war ein guter Genosse.“ In ihrem ehrwürdigen Alter ist es erlaubt, nichts zu verleugnen.

Die kommunistischen Führer werden weiterhin den Kurs steuern, den ihnen die Ereignisse der Geschichte vorschreiben und die Idee des Eurokommunismus entwickeln oder den dritten Weg zum Sozialismus erfinden. Die Masse der Arbeiter jedoch, die ihnen all die Jahre über gefolgt ist, wird ihre Einheit nur bewahren, wenn sie an ihrem Kampf für Gerechtigkeit und für eine Umgestaltung der sozialen Beziehungen festhält, indem sie lernt, über das unmittelbar Gegenwärtige und Kontingente hinaus, den Blick in die Ferne zu richten.

Paulus äußert sich im ersten Korintherbrief nicht sehr deutlich über die Hoffnung, die er, wie mir scheint, allzusehr an ein künftiges Leben und an die Wiederauferstehung des Fleisches bindet, welche doch als Versprechen eher Gegenstand des Glaubens denn der Hoffnung sein müßte. Doch dies gehört zu den Anfängen der christlichen Theologie und möglicherweise könnten uns die Experten der Materie hierüber eine befriedigendere Auskunft geben. Für mich indessen kann Hoffnung - verstanden als Kardinaltugend neben Glauben und Liebe - nur den Sinn von Erwartung haben (der, wenn ich nicht irre, auch der im Griechischen gebräuchliche für i sein dürfte, auch wenn es von späteren Übersetzern stets mit Hoffnung wiedergegeben wurde): Erwartung, die auf jenen messianischen Faktor verweist, den Paulus, der Apostel, sich trotz seiner Verwandlung des Judentums in Christentum bewahrt hat.

Letztes Kapitel von Cesare Musatti, Chi ha paura del lupo cattivo, Editori Riuniti, 276 Seiten, 16.500 Lire.