„Wir haben jetzt eine ganz große Freiheit!“

■ Vier StudentInnen der Technischen und der Freien Universität in Berlin im Gespräch mit der taz / Über Professoren, Fachidioten, Streß und die Freiheit beim Streiken

Am morgigen Dienstag finden in der ganzen Bundesrepublik Protestaktionen von StudentInnen statt. In Frankfurt und Berlin haben die Studierenden ihre Institute besetzt, organisieren autonome Seminare und fordern Mitbestimmung. Die taz hat sich mit vier Berliner StudentInnen über ihre Erfahrungen mit der Uni, ihre Wünsche und Perspektiven unterhalten: Patrick, 30 Jahre, studiert im dritten Semester Zahnmedizin und ist mit der Streikmoral seiner KommilitonInnen eher unzufrieden. Die 22jährige Friederike (Technische Universität) will Architektin werden und gehört zu denjenigen, die den Streik ins Rollen brachten. Richard (Freie Universität), 25, ist Chemie-Student. Die 24jährige Anne (FU) studiert am Lateinamerika-Institut, das geschlossen werden soll. Die Aussagen der vier sind natürlich nicht repräsentativ, sie haben kein studentisches Mandat und sprechen nur für sich.

Vier StudentInnen der Technischen und der Freien Universität in Berlin im Gespräch mit der taz / Über Professoren, Fachidioten, Streß und die Freiheit beim Streiken

taz: Es gibt Leute, die behaupten, ihr wollt alle nur Karriere machen.

Friederike: Schön wär's, wenn man Karriere an dieser Uni machen könnte. Speziell an der TU und dort bei den Architekten ist die Ausbildung miserabel. Es gibt so wenig Möglichkeiten, an Lehrveranstaltungen teilzunehmen, daß von Karriere keine Rede sein kann. Die Seminarplätze werden verlost, und die anderen haben dann eben Pech gehabt. Der Trend geht immer mehr in die Richtung, daß die Leute zu Hause alleine ihr Studium machen müssen oder sich privat treffen. Es ist für viele nicht mehr möglich, an der Uni die Lehre zu bekommen, die sie eigentlich brauchen.

Geht es euch in erster Linie um mehr ProfessorInnen?

Friederike: Nein. Aber der Unmut an der Uni ensteht an diesen Symptomen, daran, daß die Lehre schlecht ist, unzureichend. Es gibt ja eindeutige Präferenzen von StudentInnen für bestimmte Seminare. Andere Seminare sind so mies, da geht niemand hin. Wir streiken jetzt ja schon eine Weile, und den StudentInnen wird immer bewußter, daß diese miese Lehrsituation mit den Strukturen zu tun hat. Sie merken, daß sie kein Mitspracherecht haben. Die Forderungen der StudentInnen sind in der kurzen Zeit schon viel politischer geworden. Es geht um Mitbestimmung bis hin zur Selbstbestimmung. Darüber wird diskutiert.

Richard: Wir haben eine ziemlich aktive Fachbereichsgruppe. Wir waren ziemlich wenige, aber sind schon länger aktiv. Es ging vor allem um die ersten Semester Biochemie und Chemie, wo anorganische Chemie gekocht wird und die Seminare brutal überfüllt sind, keine Assistenten da sind und eklatante Sicherheitsmängel bestehen. Letztes Jahr mußte deswegen sogar einmal eine Frau ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie sich verletzt hatte, in der Zeit kein Assistent da war. Es geht uns natürlich auch immer um die weiteren Studieninhalte. Wir haben gemerkt, das Studium läßt uns keine Zeit, uns politisch zu betätigen. Wir werden so durchs Studium geprügelt und wir können überhaupt nichts daran selbst bestimmen. Wir haben uns immer schon zum Beispiel eine Diskussion mit Gesellschaftswissenschaftlern darüber gewünscht, was wir eigentlich tun. Wir werden zu Fachidioten erzogen, zu Kochern, die überhaupt nicht lernen, die Relevanz ihres Tuns auch unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten beurteilen zu können, und nicht nur unter naturwissenschaftlichen. Wir möchten eine fächerübergreifende Ausbildung haben. Wir merken jetzt, und es kommt der ganze Unmut auf einmal hoch, daß wir überhaupt nichts dagegen tun können, weil die ProfessorInnen in allen Gremien eine Mehrheit haben. Deshalb ist unsere zentrale Forderung auch erst einmal, diese Mehrheit zu kippen, bevor wir überhaupt etwas ändern können. Unsere ProfessorInnen am Fachbereich solidarisieren sich sogar damit.

Anne: Nochmal zur Karriere. Wir wenden uns doch gerade gegen diese Art der Karriere. Uns geht es nicht darum, möglichst „effizient“ dieses Studium durchzuziehen, um nachher nur möglichst „produktiv“ für Wirtschaft, Industrie und diesen Staat arbeiten zu können. Wir wenden uns gerade gegen diese Ausrichtung des Studiums. Wir möchten das Studium für uns nutzen: als Raum, um nachzudenken über das, was wir da tun, und die Art und Weise, wie wir vielleicht Karriere machen wollen. Und ich meine mit Karriere etwas anderes, als gemeinhin darunter verstanden wird.

Was willst du denn?

Anne: Das Studium als Freiraum, um eigene Ideen zu entwickeln, um an Formen zu denken, konstruktiv zusammenzuleben und Gesellschaft zu gestalten, auch nach dem Studium in der Arbeit.

Streik hört sich gut an, ist aber eigentlich ein Kampfinstrument der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Bei einem Uni-Streik ist mir immer gar nicht so klar, welches Machtinstrument ihr da überhaupt habt.

Richard: Klar. Die Studentenschaft kann halt nicht wie eine andere Interessensgruppe glaubhaft eine Leistungsverweigerung androhen und sie hat auch keine Lobby. Das ist genau der Knackpunkt. Deswegen brauchen wir die Öffentlichkeit.

Friederike: Für mich hat der Streik vor allem die Bedeutung, den Leuten eine Pause zu geben, in der sie über ihre Situation nachdenken können, sich darüber bewußt zu werden und Forderungen zu formulieren. Das geschieht in autonomen Seminaren und Arbeitsgruppen.

Wie sehen diese Lehrveranstaltungen aus?

Friederike: Das geht in viele Richtungen. Es gibt Leute, die interessieren sich zum Beispiel für ökologisches Bauen. Wir kriegen in der Baustoffkunde ja zum Teil Sachen vermittelt, die haarsträubend sind. Uns wird doch in der Uni 08/15-Architektur beigebracht.

Gibt's bei euch auch autonome Seminare?

Patrick: Nee. Unser Ruf ist sowieso total mies. Von uns wird behauptet, hier nicht nur Zähne behandeln zu wollen, sondern auch Porsche-Fahrer werden zu wollen. Und so ist das auch bei dem Streik. Über die Inhalte des FU-Streiks fand gar keine Auseinandersetzung statt. Der Druck zum Streik überhaupt kam von den Medizinstudenten dahingehend, daß die Zahnmediziner mitmachen sollten im vorklinischen Bereich, der klinische Bereich hat sich dann angeschlossen. Mitte der Woche wurden dann die Inhalte des eigenen Streiks nachgereicht. Die StudentInnen überlegten sich erst einmal, was ihre Forderungen zur Verbesserung der Ausbildung sind. Irgendwo gab es dann auch Mal eine Auseinandersetzung, weil jemand ein Nicaragua-Plakat aufgehängt hat. Da meinten dann welche, sie könnten sich damit nicht solidarisieren. Das sei ja politisch.

Richard: Wir bieten zwei verschiedene Arten von Seminaren an. Zum einen Unterrichtsseminare für die ersten Semester. Auf der anderen Seite machen wir übergreifende Seminare, wo wir etwa über das Selbstverständnis und die Rolle der Universität in der Gesellschaft diskutieren, über den Anspruch und darüber, wie es in der Realität tatsächlich aussieht. Wir versuchen in Arbeitsgruppen unsere Forderungen zu formulieren.

Friederike: Bei uns haben die PolitikwissenschaftlerInnen angefragt. Die wollen ein Seminar über Städtebau machen und wollen ArchitektInnen dabei haben.

Patrick: Es gibt bei uns keine Alternativ-Veranstaltungen. Forderungen, die von einer kleinen Minderheit bei uns kamen nach einem anderen Studium, wo es nicht nur um fachidiotische Ausbildung, sondern auch um eine Einbeziehung von Geistes- und Gesellschaftswissenschaften ging, wurden abgebügelt. Die Leute kommen mehr oder minder mit kurzer Unterbrechung von der Schule und finden es scheinbar sehr angenehm, gleich ein so total verschultes Studium vor sich zu haben. Sie können ihre Fächer belegen, ihre Scheine machen und nach fünfeinhalb Jahren, wenn nichts dazwischen kommt, sind sie fertig. So eine Auseinandersetzung, wie du sie gerade angesprochen hast über Gentechnik, die findet bei uns nicht statt. Bei uns geht es nur um die Verbesserung der materiellen Ausstattung der Klinik. Mehr Personal und mehr Geräte usw. - leider!

Anne: Bei uns, bei den Geistes- und Sozialwissenschaftlern, kommt dieses Thema immer wieder auf: Was machen wir mit den Medizinern, den Naturwissenschaftlern? Weil die scheinbar erhebliche Schwierigkeiten haben, diese inhaltlichen Forderungen mitzutragen. Ich versteh das gar nicht so ganz. Bei euch, Patrick, sind diese Studienbedingungen schon da, gegen die wir im Ansatz jetzt protestieren. Die Art und Weise, wie ihr reingezwängt werdet in die Veranstaltungen, wie ihr unter dem Druck studieren müßt, daß ihr das Semester wiederholen müßt, wenn ihr zweimal gefehlt habt, das ist doch kein selbstbestimmtes, kein freies Studium!

Richard: Ich finde es auch total wichtig, den Leuten klarzumachen, daß diese Bedingungen nicht lehrplanabhängig sind, sondern daß sie gewollt sind, um jede politische Aktivität und jedes Engagement besonders in den Naturwissenschaften im Keim zu ersticken.

Patrick: Bei den Zahnmedizinern ist es so, daß sich die StudentInnen den Bedingungen anpassen. Sie wissen genau, daß sie zum Beispiel ein Wartesemester haben, um einen klinischen Platz zu bekommen. Ich bin ja der Meinung, alle die wollen, sollten zugelassen werden. Wir wissen genau, es gibt 170 Studenten, die auf 80 Klinikplätze im kommenden Semester verteilt werden müssen. Und was passiert mit denen? Sie werden Klausuren belegen, Prüfungen ablegen, und die 80 werden rausgepult. Diejenigen, bei denen es nicht geklappt hat, die lassen sich auf die Warteliste setzen und warten darauf, daß sie einen klinischen Platz klriegen, statt die bestehenden Bedingungen in Frage zu stellen, vom Ansatz her das zu verändern und mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Es gibt natürlich auch ganz Kluge, die klagen sich übers Verwaltungsgericht rein, die haben halt das Geld dafür, und die anderen hängen dann eben hinten dran. Mit Solidarität hat das nichts zu tun. Ellenbogen und Karrieredenken.

Richard: Es sind genau die gleichen, wenn nicht gar schärfere Strukturen bei uns in der Uni wie in der Gesellschaft überhaupt. Mitbestimmung gibt es bei uns an der Uni praktisch nicht mehr. Das muß man in der Öffentlichkeit überhaupt erst einmal klarmachen. Jeder denkt doch, Studenten schlafen aus und können den ganzen Tag tun und lassen, was sie wollen. Aber die Studenten können ihre essentiellen Forderungen noch nicht einmal im Ansatz durchsetzen, weil Demokratie in der Uni nicht mehr stattfindet.

Friederike: Und genau daran krankt die Lehre. Die Professoren interessieren sich überhaupt nicht mehr für die Lehre, die ist denen egal. Das geht so weit, daß sie sich bei Berufungen keinen mehr in die Uni holen, der besser ist als sie selbst. Das sind einfach Geier, die sich keinen Adler ins Nest holen. Es ist völlig falsch zu glauben, unter dem Mitspracherecht der Studenten würde die Lehre leiden. Im Gegenteil, die Ansprüche würden steigen. Die Professoren mit ihrer Bequemlichkeit sind viel schlimmer für das Niveau der Uni als die StudentInnen.

Anne: Trotzdem würde ich nicht alles auf die Profs abschieben. Die sind doch zum großen Teil in einer ähnlichen Situation wie wir. So wie wir vereinzelt dastehen und einen Weg für uns suchen, so ist es bei den ProfessorInnen auch. Das spiegelt sich bei denen doch wider. Die versinken in ihrem Fachidiotentum und schließen sich nur noch in ihrem Büro ein. In ihrem Kämmerlein forschen sie und machen vielleicht auch noch irgendeine Veranstaltung. Aber da läuft nichts mehr gemeinsam.

Friederike: Wir fordern halt Mitbestimmung, und diese Forderung richtet sich nicht an die Profs.

Was erwartest du denn von den ProfessorInnen?

Friederike: Interesse an der Lehre, Engagement, Betreuung von StudentInnen, so wie sie es wollen, sich auf sie einlassen und sich der Diskussion stellen. Architekturdiskussionen finden bei uns überhaupt nicht mehr statt. Es wird immer mehr rausverlagert aus der Uni. Wenn irgendwo außerhalb der Uni eine Architekturveranstaltung ist, kann man sicher sein, daß ein Haufen Studenten dort ist. Denn die müssen sich ja eine Auseinandersetzung suchen, Diskussionen gibt es ja an der Uni nicht mehr.

Anne: Die ganzen Strukturen an den Unis sind faul, nicht nur der Anteil der Mitbestimmung in den einzelnen Gremien. Die Strukturen sind zersetzt durch Mechanismen, wo Professoren in vielen Situationen nichts mehr zu sagen haben. Bei uns sind alle Profs gegen diese Auflösung des Lateinamerika-Institut, trotzdem haben sie keine Möglichkeit, irgendetwas dagegen zu machen. Weil eben diese rechte Fraktion von Liberaler Aktion und NoFu die Mittel hat, direkt einzugreifen.

Richard: Bei uns ist das genauso. Die Professoren profilieren sich in der Forschung, bekommen einen Haufen Gelder dafür, meistens Drittmittel. Auf der anderen Seite ist die Lehre, und die wird dann meistens an Assistenten abgegeben. Und es gibt keinerlei Kontrolle der Lehre durch irgendein Gremium. Selbst in den USA ist es so, daß dort, wenn ein Prof eine schlechte Vorlesung macht und die StudentInnen zu ihm hingehen und sagen, sie ist totale Scheiße, deine Vorlesung, dann kann er sich überlegen, sie sofort besser zu machen oder er fliegt raus.

Friederike: Bei uns geht die Diskussion gerade in die Richtung, daß ProfessorInnen eigentlich gar nicht auf Lebenszeit angestellt werden dürften, weil sich dann bei ihnen so eine Lethargie breitmacht.

Patrick: Bei uns spielt das mit den Profs überhaupt keine Rolle. Da gibt es einfach einen Gegenstandskatalog, der gelernt werden muß, und es ist vollkommen gleich, ob vorne nun ein Professor steht, der sich mit irgendetwas auseinandersetzt oder nicht. Bei uns könnten die Studenten das vorklinische Studium zum größten Teil zu Hause machen, die brauchen die Profs gar nicht. Die Bücher sind da, da steht drin, was ich lernen muß. Das kann ich alles lernen und dann gehe ich zur Prüfung und erzähle, was in den Büchern drinsteht. Ich muß trotzdem täglich Pflichtveranstaltungen besuchen. Für fachübergreifende Lehrveranstaltungen bleibt keine Zeit.

Die Forderungen und Diskussionen, die in den einzelnen Fachbereichen laufen, sind sehr unterschiedlich. Einige StudentInnen wollen nur Verbesserungen für das eigene Institut. Andere stellen die Hochschulmisere in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang. Wie kriegt ihr das unter einen Hut?

Friederike: Das ist sehr schwierig, unter einen Hut zu bekommen. Es gibt bei uns an der TU auch Leute, die an ihrer Lehre nichts kritisieren. Denen geht es gut. Die werden individuell betreut, das Fachliche kommt rüber. Das ist eines der großen Probleme jetzt. Da kann man natürlich auch die StudentInnen gegeneinander auspielen.

Wird das schon versucht von der Uni-Leitung?

Richard: Der FU-Präsident Heckelmann hat angeboten, daß er den MedizinstudentInnen alle Pflichtveranstaltungen für diese Woche erläßt, wenn sie ab nächste Woche wieder studieren gehen. Das ist Gott sei Dank von allen abgelehnt worden. Aber es geht ganz klar in die Richtung, daß man vor allem bei den Naturwissenschaften Versprechungen macht, um so die Streikfront aufzuweichen. Aber das klappt nicht. Selbst das Institut für Luft und Raumfahrt liegt lahm.

Andere Forderungen von euch sind: interdisziplinäre Lehre, Faschismusforschung an allen Instituten und die Etablierung feministischer Wissenschaft. Ist das nachgeschoben?

Friederike: Es war natürlich am Anfang nicht allen klar, was sie wollen. Das ist eine Bewegung, wo jetzt ein Vakuum gefüllt wird, während dieser Zeit der Unruhe. Da stellen sich viele Fragen: Was ist eigentlich so mies, warum sind wir so enttäuscht, wenn wir mit dem Studium anfangen. Deswegen machen jetzt auch so viele Erst- und Drittsemester mit. Die sagen: Was? Das soll's jetzt gewesen sein? So? So hatten die sich das nicht gedacht. Und da werden jetzt Sachen auch nachgeschoben, das ist ein politischer Bewußtwerdungsprozeß. Bei uns ist eine ganz tolle Euphorie, da wird bis spät in die Nacht diskutiert, alle sind ganz begeistert, und ich bin auch ganz begeistert! (Lachen)

Anne: Bei uns sind auch alle ganz überrascht, das sowas möglich werden konnte, und gleichzeitig ganz euphorisch. Das ist wie ein Rausch, diese Grenzen des Denkens endlich aufbrechen zu können. Wir wurden jahrelang systematisch verdummt an dieser Uni. Und jetzt knacken wir das. Vorher gab es so ein Grundgefühl: Das ist nicht unsere Uni. Damit konnten sich seltsamerweise alle identifizieren. Und jetzt, wo wir uns hinsetzen und reden, warum wir eigentlich unzufrieden sind, kommen wir auf immer größere Zusammenhänge. Wir merken: Es handelt sich hier nicht um einzelne Personen, die sind nicht das Problem, da steht was ganz anderes dahinter. Und das lernen wir jetzt erstmal zu erfassen und zu begreifen.

Auf welcher theoretischen Grundlage diskutiert ihr denn die Wirklichkeit, eure Situation? Ist Marxismus wieder angesagt? Im SFB Fernsehen wittern die Kommentatoren ja schon wieder „Extremisten“.

Friederike: Es gibt sehr viele Motive, es ist keine Linie erkennbar, und das ist auch gut so! Und davon sind wir sehr begeistert, weil das antiautoritär ist. Und das wollen wir in jedem Fall erhalten, deswegen sind die autonomen Seminare ja auch so wichtig. Wir wollen viele Sachen diskutieren und vielgleisig fahren. Wir wollen keine Schlagwörter. Und was die Extremisten angeht: Daß die irgendwo lauern, seh ich nicht, die fühlen sich eher von uns überrannt.

Anne: Ich finde es auch interessant, daß Leute, die gar nicht an der Uni sind, plötzlich zu uns kommen und mitdiskutieren.

Was sind das für Leute?

Anne: Na, Leute, die im Arbeitsalltag sicher auch unzufrieden sind. Die merken: Verdammt, da geht was ab, das macht Spaß. Da kann ich lernen, aus den festgefahrenen Arbeits- und Denkstrukturen mal rauszugehen. Von daher find ich's auch total gut, das wir in die Schulen gehen, in Betriebe gehen und mit denen diskutieren.

Werdet ihr da eingeladen oder geht ihr einfach hin?

Anne: Da gehen wir einfach hin!

Richard: Die IG Metall hat sich mit uns solidarisch erklärt und unterstützt unsere Forderungen.

Friederike: Wir haben Anrufe aus Schulen bekommen, in der Uni sind jetzt auch viele SchülerInnen. Wir kriegen soviele Anrufe, daß wir gar nicht wissen, wie wir das auf die Reihe kriegen sollen, wenn soviel von außen kommt.

Nochmal was anderes: Ihr seid ja sowas wie die Kinder von '68, politisch gesehen wahrscheinlich die Enkel. Die Profs, mit denen ihr zu tun habt, gehörten doch damals oft zu den Studentenbewegten.

Friederike: Wir haben '88 und nicht '68. Wir haben andere Wünsche, andere Forderungen, wir haben eine ganz andere Geschichte. Das läßt sich nicht vergleichen.

Richard: Das ist unsere Bewegung und nicht die von '68. Wenn die unsere Forderungen unterstützen, können die mitmachen. Wenn nich, dann eben nich.

Anne: Wir definieren uns weder mit denen noch gegen die. Das betrifft uns gar nicht mehr. Es gibt viele von denen, die kommen und sagen: Ich seh schon, was ihr da macht, aber da kommt nix bei raus. Aber das ist für uns nicht relevant. Wir haben auch nicht dieses Theoriegerüst, was die hatten, wie man sich 'ne gesellschaftliche Veränderung vorstellt. Die hatten vielleicht auch konkretere Forderungen. Aber das ist ja auch unsere Chance, unsere Freiheit, was ganz Neues zu schaffen, und uns eben nicht an Schlagwörtern wie Sozialismus oder Marxismus aufzuhängen. Wir haben jetzt eine ganz große Freiheit, und vielleicht ist das unser Theoriegerüst.

Interview: Max Thomas Mehr/ Claus Christian Malzah