piwik no script img

„Medis“ streiken weiter

■ Hammelsprung über den medizinischen Schatten

„Lieber ein kranker Streik als ein gesundes Studium“ steht auf einem Transparent in der Eingangshalle der Mediziner. Und gleich daneben das Abstimmungsergebnis der großen Vollversammlung von Sonntag: 1.717 Stimmen für die Fortsetzung des Streiks, 357 dagegen. Mit dem Rückhalt der satten Mehrheit von 82,8 Prozent bei sehr hoher Wahlbeteiligung geht der Streik der Mediziner somit weiter und zwar unbefristet.

„Wenn wir hier streiken, ein paar Leutchen aber trotzdem in die Seminare oder Praktika gehen, dann können wir anderen das als ‘Fehltermine angerechnet bekommen, und davon kann man sich zum Beispiel in Physiologie nur einen im ganzen Jahr leisten, sonst ist der ganze Kurs futsch“, erklärt die Medizinstudentin Eila. „Und deshalb ist es für uns so wichtig, daß da wirklich niemand hingeht, denn dann müssen Ersatztermine angeboten werden.“ - „Und uns allen können sie ja nicht das Semester streichen“, fügt Jörg, der bei der Streikkoordination mitarbeitet, hinzu. „Bloß dann kommt die Minderheit, die gegen den Streik ist, und will die Veranstaltungen stattfinden lassen. Wenn wir die Seminare blockieren oder verhindern, werfen die uns dann vor, wir seien ‘undemokratisch.“

Und so wurde am Sonntag auf der VV dann in traditionellster demokratischer Form über den Streik abgestimmt. Nach jeweils vier „Pro-“ und vier „Kontra-Stellungnahmen“ mußten die 2.074 anwesenden Medis - über die Hälfte aller eingeschriebenen Studenten! - im Hammelsprungverfahren den Hörsaal enweder durch die Ja- oder durch die Nein-Tür verlassen. Um sicherzustellen, daß auch wirklich nur Medizinstudenten über ihren Streik entscheiden, mußten bei der Abstimmung alle ihren Studentenausweis beziehungsweise mindestens einen Schein in Humanmedizin vorlegen.

„Obwohl der Streik nun so klar entschieden ist“, sagt Jörg, „müssen wir immer noch viel Zeit und Kraft aufbringen, den Streik auch durchzuziehen und die Seminare zu verhindern. Für die inhaltliche Arbeit bleibt da viel zu wenig Zeit, leider. Einige alternative Veranstaltungen zum üblichen Lehrbetrieb laufen aber trotzdem, zum Beispiel zur Gentechnik oder auch interdisziplinär zusammen mit den Philosophen zum Arzt-Verständnis.“ Der Blick ans schwarze Brett zeigt weitere selbstbestimmte Veranstaltungen, von „Anti-Psychiatrie“ über „Fußzonenreflexmassage“ bis hin zu einem autonomen Seminar über „koronare Herzkrankheiten“, in dem auch „grundsätzliche Fragestellungen: Welche Stellung hat der Mensch im ökonomischen Arbeitsprozeß?“ Platz finden.

Als ihre Leitziele sehen die streikenden Mediziner die von den gesamten FU-Studenten aufgestellten Forderungen. Darin ordnen sich ihre spezifischen Anliegen ein, in denen sie die Ausbildung zum Allgemeinarzt statt Spezialistentum sowie fächerübergreifendes Lernen fordern. Das starre Pflichtprogramm soll Platz machen für mehr Eigenverantwortung im Studium, und mehr Dozenten und Tutoren sollen das Studieren in Kleingruppen möglich machen. Die Medis wenden sich darüber hinaus auch gegen die sich ans Studium anschließende „Arzt im Praktikum„-Regelung und fordern statt dessen eine stärkere Praxisausrichtung des Studiums.

„Durch den anonymen Studiengang, der bei uns Medizinern verschulter ist als die Schule und wo man extrem zum Einzelkämpfer erzogen wird, habe ich mich bisher an der Uni immer unwohl gefühlt“, meint Jörg. „Jetzt, durch den Streik, wo man Tage und Nächte an der Uni verbringt, mit den Leuten, an denen man sonst nur vorbeiläuft, gemeinsame Aktionen macht, sich unterhält oder inhaltlich etwas erarbeitet, dadurch fühle ich mich das erste Mal wohl an meiner Uni.“

Heute um 18 Uhr ist in der Physiologie die nächste Mediziner-VV.

Bert Hoffmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen