Haben wir Menschenrechte?

■ Der während des Zweiten Weltkrieges in Ungarn geborene Autor wurde nach seiner Ende der 70er Jahre geschriebenen Kritik der Marxschen Wertanalyse aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Seit 1981 ist er Mitherausgeber der wichtigsten ungarischen Samisdatzeitschrift 'Beszebö‘. Zur Zeit hat er ein Forschungsstipendium an der New School of Social Science in New York. Unser Text ist das erste Kapitel seines Buches zum Thema „Haben wir eigentlich Menschenrechte?“

Janos Kis

„Es schreit der alte Grenadier mit dem Kaiser, er fordert Respekt, zwischen ihm und dem Herrscher, zwischen dem Untertan und der Hoheit spinnen sich unsichtbare Bande gemeinsamer Herrlichkeit“ Bulat Okudjava: Begegnung mit Napoleo

Die Menschenrechtsbewegungen im Jahrzehnt nach der Helsinki -Konferenz 1975 haben in den osteuropäischen Staaten sowjetischen Typs zu neuen öffentlichen Verhaltensweisen geführt, die in dieser Region bis dahin kaum bekannt waren.1 Die Vertreter nehmen ganz offen in Kauf, daß nicht nur ihre Aktivitäten, sondern sogar ihre bloße Existenz gegen die geltenden administrativen und strafrechtlichen Normen verstoßen. Man könnte fast sagen, daß sie es nahezu darauf anlegen, das öffentliche Interesse gerade auf diesen Konflikt aufmerksam zu machen. Ihrer Argumentation zufolge gehört es zu den fundamentalen Rechten jedes Menschen, in diesem Fall so zu entscheiden. Gibt es dennoch ein Gesetz, das ihre Aktivitäten deshalb unter Strafe stellt, so muß das Gesetz geändert werden.

Aber auf welcher Basis werden den kodifizierten Rechten Menschenrechte entgegengestellt. Auf welcher Grundlage können wir behaupten, wir hätten Menschenrechte, obwohl die Gesetzgebung sie nicht ausreichend schützt, die Verwaltung sie nicht respektiert und die Justiz ihnen keinen Geltungsanspruch zugesteht? Aus welchen Gründen können wir behaupten, diese Rechte schlössen höhere Befehle als die geltenden Rechtsvorschriften ein, sodaß sie letztere außer Kraft setzen können, wenn sie mit ihnen in Konflikt geraten.

Seitdem im 18.Jahrhundert philosophische Abhandlungen, politische Flugblätter und verfassungsmäßige Erklärungen den Begriff der Menschenrechte eingeführt hatten, wurden immer wieder solcherlei beunruhigende Fragen aufgeworfen.

Aber nicht so hier, in Osteuropa. Von der Politik

zur Philosophie

Die Verfechter der Menschenrechtsbewegungen unserer Region diskutieren sehr viel über politische Taktiken, aber sie haben verabsäumt, grundsätzliche Fragen an die politische Philosophie zu stellen. Die Polemiken schließen die Probleme des Wie weitestgehend ein, während die Fragen des Was und Aus welchen Gründen nicht gestellt werden. Wer sich gegenüber der schier unbegrenzten Macht des Parteistaates bloß auf Menschenrechte beruft, der spricht von den Rechten so, als ob ihr Inhalt und ihre Geltung Evidenz hätten.

Bei näherer Betrachtung erscheint das gar nicht so seltsam.

Der Anspruch auf Menschenrechte bedarf in zweierlei Fällen der Rechtfertigung: dort, wo die Gesetze eines Staates nicht einmal die fundamentalsten Menschenrechte anerkennen; unter solchen Umständen muß aufgezeigt werden, daß den Untertanen schon allein deshalb, weil sie Menschen sind, gegenüber dem Staat und den Mitmenschen Rechte zustehen, auch wenn die Gesetzgebung diese Rechte nicht kodifiziert hat.

Ferner bedarf der Anspruch auf Menschenrechte dort einer Rechtfertigung, wo die grundlegenden Rechte zwar kodifiziert sind, aber das Gesetz wichtige Rechtsdebatten nicht eindeutig entscheidet. In dieser Situation taucht wieder die Frage auf, mit welcher Begründung die Parteien ihren Rechtsanspruch rechtfertigen. Jene, die die Anerkennung ihrer Ansprüche in Grenzfällen fordern, müssen solch eine Legitimationstheorie der Menschenrechte entwickeln, welche die klassischen, nicht zur Diskussion stehenden Fälle einschließt und gleichzeitig die kontroversen Grenzfälle zu ihren Gunsten entscheidet. Jene, die meinen, der fragliche Rechtsanspruch sei unbegründet, müssen ihrerseits ebenso versuchen, eine die Gesamtheit der klassischen Rechte abdeckende Theorie aufzustellen und aufzeigen, daß die zur Diskussion stehenden Ansprüche durch die Menschenrechte selbst nicht gerechtfertigt sind.

Grenzfälle ergeben sich nicht deshalb, weil die ursprüngliche Kodifizierung zuweilen unvollkommen ist. Es gibt keine perfekte Kodifizierung; in offenen, sich entwickelnden Gesellschaften können die Gesetzgeber niemals jeden nur vorstellbaren Fall der Rechtsanwendung voraussehen. Aber nicht zu allen Zeiten sind Rechtsdebatten gleichmäßig häufig und signifikant. Es kommt vor, daß eine Regelung gewisser Gebiete zu allseitiger Zufriedenheit erreicht und jede wesentliche Frage geklärt wird, und daß sich die Richtlinien des Gesetzes nur in peripheren Fällen als ungenügend erweisen. Es kommt aber auch vor, daß reihenweise Fälle auftreten, welche in der juristischen Fachwelt und in der Öffentlichkeit heftige soziale Debatten auslösen und zu einem Neuüberdenken bereits abgeschlossen geglaubter Kodifikationen zwingen. Das sind die Perioden, in denen es zu einer Belebung der philosophischen Rechtstheorie kommt. Es treten miteinander konkurrierende Theorien auf, und jede muß für sich beweisen, daß sie nicht nur auf die bereits geklärten, sondern auch auf die neu aufgetretenen Rechtsprobeme eine widerspruchsfreie Antwort geben kann und daß sie jene in der Debatte gegen sie gerichteten Argumente entkräften kann.

Als gutes Beispiel für die erste Situation dienen die zwei der französischen Revolution vorangegangenen Jahrzehnte, in denen das Gesetz die Gleichheit und Freiheit der Bürger noch nicht anerkannt hatte, aber der Anspruch darauf bereits immer mehr Verbreitung fand, demzufolge diese Rechte als Eckstein der Staatsordnung verankert werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt entstand jene Theorie, die, auf einer sekularisierten Version des thomistischen Naturrechts aufbauend, die Idee verkündete, derzufolge die natürlichen Menschenrechte grundlegender sind als die aus den Gesetzen geschöpften Rechte.

Für die zweite Situation bieten die vor einigen Jahrzehnten in den führenden liberalen Demokratien aufgeflammten Rechtsdebatten ein Beispiel. Obwohl der verfassungsmäßige Rang der fundamentalen Menschenrechte einhelliger denn je anerkannt wird, stellte sich dennoch die Frage, auf welcher Basis man eigentlich über Menschenrechte sprechen kann. Eine ganze Reihe von entscheidenden Rechtsdebatten spaltet die Meinung zwischen Juristen und Öffentlichkeit, und das Ergebnis hängt in jedem Fall davon ab, worauf die allgemeine Theorie der Menschenrechte abzielt. Es steht zur Debatte, wie weit das Recht auf Abtreibung reichen soll; ob das Recht auf Leben die Euthanasie verbietet; ob Armut eine Rechtsgrundlage für staatliche Unterstützung schafft; ob und wie weit die wirtschaftliche Dekonjunktur den Abbau von Unterstützungen rechtfertigt; ob jene staatlichen Programme, die auf die Rechtfertigung der Situation von rassischen Minderheiten abzielen, das Recht auf Gleichbehandlung verletzen, ob man die Verbreitung von pornographischen Werken verbieten darf; ob die behördliche Verfolgung von solchen Sexualgewohnheiten gestattet werden soll, die von der öffentlichen Meinung verurteilt werden; welcher Rechtsschutz den der Straftaten Verdächtigten und Verurteilten zusteht; welche Rechte den sogenannten „Gastarbeitern“ und ihren Familienangehörigen zugestanden werden sollen usw. Es erstaunt daher kaum, wenn in der westlichen - besonders in der angelsächsischen Rechtstheorie und politischen Philosophie heute wiederum zur Diskussion steht, welche Prinzipien die Grundlage dafür bilden, daß wir von Menschenrechten sprechen können. Im Osten ist

alles anders

In den osteuropäischen Staaten sowjetischen Typs drängt allerdings weder der eine noch der andere Beweggrund dazu, diese theoretischen Fragen aufzuwerfen. Wir befinden uns nicht in der Lage jener, die den Absolutismus des 18.Jahrhunderts kritisieren, da mit der Ratifizierung der Internationalen Konvention über bürgerliche und politische Rechte die Gesetzgebungen unserer Staaten die Menschenrechte kodifiziert haben. Wir können uns daher auf geltende Gesetze berufen, wenn wir die Respektierung der bürgerlichen und politischen Rechte auf Freiheit und Gleichheit fordern.

Aber wir befinden uns auch nicht in der Situation der westlichen Bürgerrechtskämpfer und liberalen Reformer, die sich auf der Basis anerkannter verfassungsmäßiger Prinzipien für bisher noch nicht verwirklichte Rechte einsetzen können. Denn in Osteuropa existieren jene Rechte, die in den konstitutionellen Demokratien von jedermann (außer von extremistischen Minderheiten) anerkannt werden, nur auf dem Papier.

Unter den Vertretern der Menschenrechte im Westen werden über das Thema Pornographie oder über ein Verbot zur Verbreitung von rassischen Vorurteilen heftige Debatten ausgefochten, aber niemand stellt die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks oder der Kritik an den politischen Institutionen in Frage. Es sind nicht alle einer Meinung darüber, ob es eine strafbare Handlung sei, wenn Demonstranten gegen die zu ihrer Auflösung abkommandierten Ordnungskräfte gewaltsamen Widerstand leisten, aber niemand stellt das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen in Frage. Nicht alle mögen sich darin einig sein, ob die Führung einer Gewerkschaft einen Streik ausrufen dürfe, ohne die vorherige Zustimmung ihrer Mitglieder eingeholt zu haben, aber allgemeine Übereinstimmung herrscht darüber, daß Gewerkschaften das Recht auf Streik zusteht, soferne die Arbeiter ihn beschlossen haben. Und genau dafür müssen die Menschenrechstbewegungen in den Staaten Osteuropas kämpfen: nämlich für die Ausübung solch umstrittener klassischer Rechte. Wir versuchen den Staat dazu zu bewegen, jenen seiner Verpflichtungen nachzukommen, die sichoffensichtlich und eindeutig aus den Internationalen Konventionen ergeben.

Diese Taktik wird von der politischen Notwendigkeit vorgeschrieben. Es liegt auf der Hand, daß in den klassischen Fällen die Menschenrechte bereits den notwendigen Schutz genießen müssen, um in umstrittenen Grenzfällen überzeugend für einen Rechtsanspruch eintreten zukönnen. Und, vor allem, auf welches Recht auch immer wir Anspruch erheben: damit wir wirkungsvoll auftreten könnem, müssen wir über ein Minimum an Rede,- Presse-, Versammlungs und Organisationsfreiheit verfügen.

Aber auch die politische Zweckmäßigkeit erfordert, daß wir bei den klassischen Rechten ansetzen. Bei ihnen ist es leichter, für diese Forderungen die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit zu erhalten, als in gewissen kontroversiellen Grenzfällen. In Sachen Pornographie ist die öffentliche Meinung geteilt, während man sich bei der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, der wissenschaftlichen Forschung und der politischen Kritik einig ist. Auch der Staat hält den Schein nur sehr schwer aufrecht, wenn es darum geht, den Vorschriften der internationalen Abkommen über die Menschenrechte genügezuleisten. Dies geschieht schon bei der Verletzung von klassischen Freiheiten, wenn er sich weigert, eher umstrittene Rechte anzuerkennen. Es ist aber auch etwas Wahres an den Behauptungen der Wortführer der Menschenrechtsbewegungen in der Mitte der 70er Jahre in Polen und anderswo, denenzufolge nämlich die Gewährung der klassischen Menschenrechte eine mögliche Alternative für den Parteistaat selbst sein könnte; denn schließlich würde ein solcher Kompromiß weder das Regierungsmonopol der kommunistischen Partei noch die geopolitischen Interessen der Sowjetunion gefährden. Solch ein Schritt würde nur im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft eine Änderung mit sich bringen. 2

Ob das für einen Erfolg ausreicht, und ob man die Parteistaaten Europas dazu bewegen kann, die klassischen bürgerlichen und politischen Rechte zu respektieren, das ist eine sehr heikle Frage - allerdings bloß eine taktische. Was respektiert werden muß und warum, das scheint zweifellos außer Frage zu stehen. Man braucht nur auf die entsprechenden Paragraphen der Internationalen Konvention hinzuweisen und sich auf das Rechtsempfinden der Öffentlichkeit zu berufen.

Und dennoch geben wir uns mit dieser offensichtlichen Antwort nicht zufrieden. Allein schon die Gefahr des Provinzialismus sollte uns auf die Schwäche einer derart atheoretischen Haltung aufmerkam machen. Man darf nicht vergessen, daß in anderen Teilen der Welt, in den liberalen Demokratien wieder zahlreiche Grenzfragen hinsichtlich der Menschenrechte aufgeworfen werden, die eine Spaltung der öffentlichen Meinung implizierem und Anlaß zu Polemiken in den unterschiedlichsten philosophischen Strömungen geben. Es wäre nicht richtig, jene bequeme Lösung zu wählen, derzufolge es für uns Westeuropäer sinnlos ist, einen Standpunkt in den ideologischen Debatten um den Neokonservativismus, einem Amalgam von Idealisierung des laissez-faire zu beziehen. Hinsichtlich sozialer Ungleichheit und der Verrechtlichung der Moral, z.B. der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen und Rauschgiftsüchtigen usw. Wir leben in der gleichen Welt und müssen mit den gleichen Prinzipien zurande kommen. Ebenso, wie wir am Beginn der 70er Jahre unsere Länder von den Auswirkungen des Ölpreisschocks nicht bewahren konnten, können wir auch nicht ernsthaft davon ausgehen, den Randproblemen der Meschenrechtsfrage ausweichen zu können. Wir dürfen aber auch nicht glauben, jede Menge Zeit zu haben, bis sie auch bei uns zu ernsteren Problemen werden.

Einige von ihnen sind es bereits geworden. In Ungarn sind seit Ende der 70er Jahre jene Schichten stark gewachsen, die unter die Armutsgrenze fallen. Das wirft die Frage auf, ob denn die Betroffenen, unabhängig von Schule und Ausbildung, Wohnsituation und Lebensweise bloß deshalb, weil sie Menschen sind, ein Recht auf einen annehmbaren Lebensunterhalt haben. Und wenn sie es haben: wem gegenüber steht ihnen dieses Recht zu und wie läßt sich dieses mit der Tatsache vereinbaren, daß in Zeiten wirtschaftlicher Rezession auch die Quellen des Wohlfahrtsstaates versiegen? Und wenn sie es andererseits nicht haben: wie wird denn eine Gesellschaft aussehen, die sich mit einer solchen Spaltung der Bevölkerung abfindet? 3 Differenzen in

den Oppositionsgruppen

Andere Fragen können jederzeit auf die Tagesordnung kommen. Durch den Bevölkerungsrückgang in Ungarn wird das Verständnis für kinderlose Paare oder für jene mit einem Einzelkind auf spürbare Weise verringert und - im Zusammenwirken mit anderen Faktoren - die Angst vor der sehr schnell wachsenden Zahl der Zigeunerfamilien gesteigert. Der Druck auf den Staat, in die Familienplanung einzugrifen, nimmt immer mehr zu. Dies betrifft zum Beispiel die Einschränkung der Abtreibung insbesondere bei der magyarischen Bevölkerung (und hier wieder besonders beim „wertvolleren“ Teil), während bei Zigeunern und anderen „minderwertigen“ Ungarn eine Verminderung der Geburtenrate angestrebt wird. 4 Die Verbreitung von Aids könnte dazu führen, daß der rechtliche Status von Homosexuellen in Frage gestellt wird. 5

Aber es ist nicht nur die Gefahr des Provinzialismus, die uns zur Auseinandersetzung mit prinzipiellen Fragen zwingt. Es trifft auch nicht zu, daß wir bei solch prinzipiellen Fragen, die derzeit im Westen viel heißer diskutiert werden als bei uns, vielleicht keine Stellung beziehen können, oder diese nicht richtig beziehen, wenn wir nicht erklären, welches Verhälnis wir zur ideologischen Rechten oder Linken in den liberalen Demokratien haben. Es ist eine Tatsache, daß wir uns auch hier in unserem eigenen Bereich mit schwerwiegenden ideologischen Spaltungen konfrontieren müssen.

In der Mitte der 70er Jahre hat das Thema der Menschenrechte Marxisten, Sozialdemokraten, Liberale, Konservative, Atheisten, Gläubige und apolitische Menschen mit ihren speziellen Anliegen in einem Lager vereint. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung, daß es sich nicht lohne, jene Gründe zu erforschen, aufgrund derer Menschen unterschiedlicher Überzeugung die klassischen Rechte für wünschenswert erachten; Osteuropa bedarf weder einer rechts noch linksgerichteten Politik, sondern einer Politk, die sowohl die Existenz einer Linken, als auch einer Rechten ermöglicht. 6

Natürlich gab es auch in dieser Zeit ideologische Debatten, aber diesen maß niemand übertriebene Bedeutung bei. 7

Allerdings setzte in Polen nach dem Frühling 1981 eine ideologische Differenzierung der Bewegung ein, und dieser Prozeß wurde nur durch den Dezember-Putsch verhindert. Das hat nichts Überraschendes an sich, denn sobald eine Verwirklichung der gemeinsamen Minimalziele möglich ist, führt die Wahl der weiteren Schritte zur Spaltung und Neuordnung jeglicher Allianz und ihrer Konstitution. Aber auch wenn die Stagnation einer Bewegung längere Zeit anhält, wenn nicht klar ist, ob auch nur die minimalsten Ziele verwirklicht werden können, dann zeigt die Tendenz, daß die in den Hintergrund gedrängten Fragen als Folge der Frustration nach vorne drängen. In Polen ist gerade jetzt der ideologische rechte und linke Flügel der Widerstandsbewegung im Begriff auseinanderzufallen. 8 Es heißt, daß in der Charta 77 eine ähnliche Spaltung im Gange ist. Der politische Zusammenhalt darf nicht mehr darauf beruhen, daß man den prinzipiellen Meinungsunterschieden ausweicht.

In Ungarn weisen keinerlei Anzeichen auf eine ähnliche Spaltung hin. Die Erklärung liegt jedoch nicht im starken Zusammenhalt der ungarischen demokratischen Opposition, sondern in ihrer relativen Isoliertheit. In Ungarn ist es in der Frage der Menschenrechte niemals zu einem Zusammenschluß auf breiter Basis gekommen; jene, die sich hier zusammenfanden, rekrutierten sich meist aus ähnlichen politischen und weltanschaulichen Lagern. Gelegentliche oder dauerhafte Bündnisse zwischen Oppositionellen und anderen Gruppen wurden immer hinsichtlich anderer Belange geknüpft, die nicht die Menschenrechte betrafen: z.B. den Schutz der außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen lebenden ungarischen Minderheiten, den Umweltschutz oder die Sache der kulturellen Autonomie. Eine solche Zusammenarbeit erfordert sehr viel Taktgefühl und setzt voraus, daß niemand die ideologischen Beweggründe des anderen unnötigerweise in Frage stellt.

Es ist jedoch gar nicht so sicher, daß das vorsichtige Ausweichen vor strittigen Fragen in jedem Fall zweckmäßig ist. Zweifellos ist das bei Anliegen wie dem Umweltschutz zielführend, welchem sich die Vertreter der verschiedenen Ideologien verschreiben (unter den Grünen im Westen finden sich sowohl Konservative als auch Anarchisten), selbst allerdings weitgehend ideologiefrei gehalten werden kann, da die meisten Verfechter des Umweltschutzes nicht an Prinzipen, sondern an unmittelbaren Belangen interessiert sind. Aber die Minderheitenfrage hingegen ist für jedermann sehr stark ideologisch besetzt: was ist eine Nation; was ist nationale Identität, ist die Nation eine Gemeinschaft, und wenn ja, was für eine Beziehung besteht zwischen den Rechten des Individuums und seinen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft; welche Beziehung besteht zwischen moralischen und politischen Prinzipien mit universellem Anspruch und speziellen nationalen Traditionen, zwischen dem Verpflichtetsein gegenüber der Nation und dem Kosmopolitismus usw. Die ungarische Populistische Bewegung, die seit Mitte der 60er Jahre der wichtigste Wortführer der Minderheitensache ist, hat in all diesen Fragen eine konsequente liberale und demokratische Tradition (ihre bedeutenste Figur war Istvan Bibo) Aber diese Bewegung hat auch noch eine andere historische Tradition, eine, die mehr oder weniger illiberal und antidemokratisch ist. Am charakteristischsten für den ungarischen Populismus ist meiner Meinung nach die Tatsache, daß er wahllos und unkritisch auf beide Traditionen zurückgreift, in ihm findet sich eine Reihe von miteinander im Wettstreit stehenden Strömungen. Ein Verfechter der Menschenrechte muß es wünschenswert finden, daß die prinzipiellen Unterschiede zwischen zweierlei Arten von Populismus nicht verwaschen werden. Er kann zur Klärung insofern beitragen indem er öffentlich darüber reflektiert, was eine liberale und demokratische Beantwortung der nationalen Fragen überhaupt bedeutet und erfordert. 9 Die Bedeutung von

symbolischen Gesten

Deshalb haben auch wir Ungarn Grund genug, über bloße Auflistung der Menschenrechte hinauszugehen. Vorausgesetzt natürlich, daß die Unterschiede in den Prinzipien tatsächlich zu Konsequenzen führen - was durchaus nicht offensichtlich ist. Sogar heute kann man den vor 10 Jahren eingenommenen Standpunkt vertreten, demzufolge in den osteuropäischen Staaten sowjetischen Typs der politische Bewegungsspielraum derart gering ist, daß man ohnehin nur das machen kann, worüber Konsens besteht, das Aushängen von ideologischen Fahnen kann bloß Symbolcharakter haben. Wenn das der Fall ist, so wäre es am richtigsten, zum ideologischen Konsens der 70er Jahre zurückzukehren.

Aber ist es auch wirklich der Fall? Zu allererst: Unterschätzen wir nicht die politische Bedeutung von symbolischen Gesten. Diese bestimmen, auf welche Weise eine bestimmte Gruppe von Menschen die Grenzlinie zwischen uns und sich zieht: zu wem sie und aus welchen Gründen, zu jemandem in Opposition stehen, und welche Verhaltenserwartungen sie an die jeweils andere Seite stellen. Deshalb spielt in der ungarischen Populismusbewegung beispielsweise das symbolische Element das Erleben der Zusammengehörigkeit, das Bewahren der Tradition - eine unvergleichlich größere Rolle als politische Ziele und Traditionen, aber nur die naivsten Beobachter würden auf die Idee kommen, die politische Bedeutung der Populisten zu unterschätzen.

Zweitens: Obzwar der Bewegungsspielraum recht eng ist, erübrigt sich die Klärung der Prinzipien keinesfalls. Bis zu den polnischen Ereignissen der Jahre 1980/81 schienen die Menschenrechtsforderungen problemfrei, weil es so aussah, als könnten sie einen funktionsfähigen Kompromiß darstellen. Ich möchte jetzt nicht die Frage diskutieren, warum 1980/81 dieser Kompromiß schließlich doch nicht funktioniert hat; vielleicht deshalb, weil ihn die Machtinhaber nur dem Schein nach angenommen hatten, oder weil sie sich zu spät entschlossen hatten, auf einen Kompromiß einzugehen; nämlich einerseits, als der Parteiapparat bereits demoralisiert war und man andererseits der emotionsgeladenen Massen nicht mehr Herr werden konnte; weil die Bewegung viel zu weit gegangen war, oder deshalb, weil die Bewegung im entscheidenden Moment nicht weit genug gegangen war, etc. 10. Nur soviel sei gesagt: Es ist ganz und gar nicht sicher, daß sich die Gesamtheit der klassischen bürgerlichen und politischen Rechte in jedem Fall innerhalb des forderbaren Minimums befindet: Es könnte sein, daß man sich mit bescheideneren, übergangsmäßigen Zielen zufrieden geben muß. Aber jeder, der im Sinne von taktischen Konzessionen denkt, muß genau wissen, worin sich die Schmälerung der Menschenrechte von der Aufgabe der Prinzipien derselben unterscheidet. Es kommt sehr auf die Art des Kompromisses an und seine Annehmbarkeit hängt von der normativen Theorie ab, mit der wir unseren Anspruch auf Rechte begründen.

Wie weit es zweckmäßig ist, die Toleranz des Systems zu testen, hängt allein von unserer Beurteilung des Kräfteverhältnisses in einer gegebenen Situation ab. Aber wie weit wir bei den Menschenrechtsforderungen zurückstecken können, ist bereits eine prinzipielle Frage. Sobald wir einsehen, daß die Konvention über die bürgerlichen und politischen Rechte nicht automatisch unsere minimalsten Ziele definiert, stellt sich sofort das philosophische Problem: mit welcher Begründung erheben wir Anspruch auf Menschenrechte?

Man kann an die philosophischen Probleme hinsichtlich unserer Ansprüche auf Menschenrechte auf zweierlei Arten herangehen. Die eine wäre, direkt bei jenen Schlüsselfragen zu beginnen, die durch den gegenwärtigen Kampf für die Menschenrechte in den Staaten Osteuropas an die politische und Moralphilosophie gestellt werden. Wir können aber auch auf einer abstrakten Ebene beginnen, nämlich beim Aufbau einer möglichen allgemeinen Theorie der Menschenrechte aus ihren Grundelementen. Der erste Ansatz erscheint viel schwieriger, da er sowohl den Willen voraussetzt, Fragen hinsichtlich der besonderen sozialen und politischen Situation zu stellen, als auch die Fähigkeit, diese so klar wie möglich darzulegen, um so einen Einblick in jene allgemeine philosophische Position zu gewähren, die für ihre Formulierung und Lösung maßgeblich ist. Ich sehe mich nicht in der Lage, diesen Weg einzuschlagen, sondern ziehe es vor, am anderen Ende zu beginnen. Im letzten Kapitel meiner Studie werde ich mich bemühen aufzuzeigen, daß die Unterschiede der Prinzipien in den Staaten sowjetischen Typs tatsächlich praktische Konsequenzen haben, das heißt, abhängig von der uns akzeptierten Theorie der Menschenrechte wird sich unser Verständnis für die Zulässigkeit von Kompromissen, und worüber überhaupt Kompromisse geschlossen werden dürfen, ebenso verändern, wie unsere Präferenzen hinsichtlich möglicher Entwicklungsrichtungen. Im Hauptteil meiner Studie werde ich allerdings auf die Behandlung spezifischer Probleme weitestgehend verzichten. In Kapitel 4 versuche ich einen Einblick in die Theorie der Menschenrechte zu geben. In den folgenden Kapiteln zeige ich sodann, in welcher Weise sie den klassischen Menschenrechten gerecht wird und welcher Antworten es in der umstrittenen Frage der Menschenrechte bedarf (Kap.5). In Kap.6 wird diese Theorie innerhalb der liberalen Tradition in Frage gestellt, während Kap.7 sie mit Alternativansätzen konfrontiert, darunter mit einem zeitgemäßen Rekurs auf das Konstrukt über den Naturzustand oder etwas Ähnlichem wie dem Gesellschaftsvertrag.

Aber bevor ich die Theorie der Menschenrechte skizziere und sie anderen Theorien gegenüberstelle, möchte ich das Problem selbst etwas klarer umreißen. In Kap.2 untersuche ich, wie und ob man höchste ethische Prinzipien überhaupt rechtfertigen kann. In Kap.3 werfe ich die Frage auf, welcherlei Prinzipien jemand verteidigen können muß, um die Existenz von Menschenrechten in geeigneter Weise zu rechtfertigen. In diesen Kapiteln zähle ich jene Anforderungen auf, denen eine Theorie der Menschenrechte entsprechen muß. In den Kap.2.3 und 3.4 beschäftige ich mich damit, für wen und wie weit die Menschenrechte räumlich und zeitlich gelten und mit der historischen und sozialen Identität derer, die Menschenrechte besitzen und jener, die dazu verpflichtet sind, diese zu respektieren.

Anhang

1 So bezeichne ich jene Gruppen, Organisationen und sozialen Bewegungen, die sich zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise und Forderungen auf die Menschenrechte berufen. Dazu zähle ich beispielsweise die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre entstandenen sowjetischen Helsinki-Gruppen, die Initiativgruppen der freien polnischen, sowjetischen und rumänischen Gewerkschaften, die KOR, die ROPCziO und ihre Nachfolger, die KPN, die Solidarität selbst, die Charta 77, das Komitee zum Rechtsschutz der ungarischen Minderheit in der CSSR und die sich um die unabhängige Presse gruppierende ungarische demokratische Opposition. Die Pazifisten in der DDR würde ich z.B. nicht hierher zählen, ebensowenig die ungarische Friedensgruppe für den Unabhängigen Dialog, den Donaukreis und die verschiedensten religiösen Bewegungen.

2 Diese Gedanken hat Jacek Kuron am klarsten dargelegt. Mysli o programie dzialania. Ruch oporu. Paris 1977, S. 193-213. ungarische Samisdatausgabe (Typoskript) 1978

3 Gabor Vagi spricht „Über das Recht auf ein gewisses Minimum an Lebensqualität“ und über die politischen Konsequenzen der Anerkennung dieses Rechtes: Bevölkerungsentwicklung und Reform. Gabor Havas, Janos Kenedi und Gyula Kozak (Red.): Isten eltessen Pista! Budapest, Selbstverlag ohne Impressum (1985), S. 140-166

4 Solche Stimmen erklangen 1982 bei der Debatte um die Bevölkerungsentwicklung in der Budapester Wochenzeitschrift 'Elet es Irodalom‘

5 Nach der Feststellung der ersten Aids-positiv Erkrankten in Ungarn, im Herbst 1985, haben die Gesundheitsbehörden verlautbart, homosexuelle Männer einem verpflichtenden Aids -Test zu unterziehen. Dazu müßte der betroffene Personenkreis in Evidenz gehalten werden; die offizielle Verlautbarung erwähnt allerdings mit keinem Wort, ob die Betroffenen für die Geheimhaltung der Daten eine Garantie erhalten und ob die zweckfremde Benützung der Karteien eine strafbare Handlung darstellt.

6 Miklos Haraszti definiert diesen öffentlichen Konsens sehr genau: Jogvedö rögeszmetar (zum Verrücktwerden, Kopfnoten eines Menschenrechtlers, Kursbuch 81,/Sept 85) erschienen in der Zeitung 'Hirmondo 1986/1

7 Adam Michnik erinnert sich ebenso: Takie Czasy. London 1985. 12 ff.

8 Die Broschüre mit dem Titel: Nysli staroswieckiego polaka von Pjotr Wierzbicki gilt als der Eckpfeiler der polnischen ideologischen Rechten und ist 1985 in Warschau erschienen. Eine Antwort der Linken - D. Warszawski: Wobec prawic“. Aneks 40, 1985, S. 118-130. Die Gegensätze zwischen den Rechten und Linken haben bereits vor dem Ende der 60er Jahre zu einer Spaltung im Lager der Andersdenkenden geführt. Siehe A. Yanov: The new Russian right, Berkeley 1978

9 Es ist kein Zufall, daß jene zwei Figuren der ungarischen demokratischen Opposition, die sich bei ideologischen Fragen am häufigsten zu Wort melden, so viel über die nationale Frage geschrieben haben. Siehe Libertarius (von Pal Szalai): Ungarn - 1984? ABC Unabhängiger Selbstverlag; sowie Milkos Tamas Gaspar: Idola Tribus, Budapest 1985 (Manuskript)

10 In meiner Studie „Der lange Marsch der Solidarität“ versuche ich all das zusammenzufassen, was ich als Außenstehender zu diesem Thema sagen kann Beszelö S. 5-6 1983.

Übersetzung aus dem Ungarischen: Maria Anna Dessewffy