„Ich war gegen Juden immer anständig“

Staatsanwalt fordert lebenslängliche Freiheitsstrafe für ehemaligen NS-Gendarmen Wagner wegen dreifachen Mordes an polnischen Juden  ■  Aus Nürnberg Bernd Siegler

„Ich war gegen Juden immer anständig.“ Mit tränenerstickter Stimme meldet sich der 82jährige Wilhelm Wagner nach langem Schweigen wieder vor dem Nürnberger Schwurgericht zu Wort. Eine Gruppe von etwa 30 Bundeswehrsoldaten in Uniform, wenige notorische Gerichtsbesucher und Wagners Angehörige haben sich im traditionsreichen Sitzungssaal 600 eingefunden. Hier haben auch die Kriegsverbrecherprozesse stattgefunden. Es ist die letzte Chance des ehemaligen NS -Gendarms - sein Schlußwort nach den Plädoyers.

Wagner ist nervös, ständig dreht er an seinem Krückstock. Er geht in die Offensive. „Die Zeugenaussagen sind alle Lug und Trug. Ich habe wahrheitsgemäß, wie ich es schon als Polizist gewöhnt bin, ausgesagt.“

Wagner weiß, worum es jetzt geht. Oberstaatsanwalt Jörg Schwalm hat die Anklage gegen den ehemaligen Gendarm in der polnischen Stadt Wieliczka nahe Krakow noch einmal erweitert. Statt zweifachen Mordes und eines Mordversuches hält er Wagner des dreifachen Mordes für überführt. Schwalm

-bekannt aus dem Mammutverfahren gegen den Wehrsportgruppen -Chef Hoffmann - ist nach 17 Verhandlungstagen überzeugt, daß die „Zeugenaussagen das vor 46 Jahren abgelaufene Geschehen in Kernpunkten richtig wiedergegeben haben“.

Damals, am 28.August 1942, wollten SS-Einheiten, unterstützt von der örtlichen Gendarmerie, das 17.000 Einwohner zählende Städtchen Wieliczka „judenrein“ machen. Mehrere tausend Juden mußten sich an einem Platz beim Bahnhof sammeln. Alte und kranke Menschen, Frauen und Kinder wurden ausgesondert, in den nahegelegenen Wald transportiert und sofort erschossen. Die Übriggebliebenen wurden in verschiedene Arbeitslager und in das Vernichtungslager Belzec deportiert.

Wagner will von der ganzen Aktion nichts mitbekommen haben. „Ich war die ganze Zeit als Posten bei der Gendarmeriestation.“ Doch der Zeuge Jehuda Fischler, den das Gericht in Israel vernommen hat, bestreitet das. Bereits am Sammelplatz soll Wagner mit der Pistole herumgefuchtelt und einen jüdischen Greis erschossen haben.

Nach dieser Aussage gibt es für Schwalm „keinen begründeten Zweifel“ mehr, daß Wagner den Schuß abgegeben hat. „Es handelt sich also um einen vollendeten Mord.“ Völlig unbewegt hört sich Wagner die Ausführungen des Staatsanwalts an, auch als dieser ihm aufgrund entsprechender Augenzeugenberichte die Morde am alten Uhrmacher Sobel und der bettlägrigen Milchfrau Hanka Berger anlastet. Beide Zeugen wollen gesehen haben, wie Wagner auf der Suche nach versteckten Juden im Anschluß an die Deportation seine Opfer mit Kopfschüssen getötet hat.

Die „persönliche Brutalität und Verachtung“, die Wagner gegenüber den Juden an den Tag gelegt hatte, habe - so Schwalm - gezeigt, daß der Gendarm sich die Maßnahmen zur Vernichtung der Juden zu eigen gemacht und sie in „einverständlichem Eifer“ vollzogen hatte. Der Staatsanwalt betont, daß es keinen konkreten Befehl gegeben habe, die Häuser in Wieliczka nach versteckten Juden abzusuchen. „Ohne das geringste persönliche Risiko wäre es für Wagner möglich gewesen, die Versteckten zu übersehen“, da er immer allein in den Wohnungen gewesen war. „Heldenmut wird nicht gefordert, aber ein gewisses Risiko schon.“ Schwalm beantragte für den 82jährigen eine lebenslange Freiheitsstrafe und die Aufrechterhaltung des seit Juli 88 bestehenden Haftbefehls.

Für Wagners Verteidiger, den Nürnberger Anwalt Herbert Schußmann, ist der Fall Wagner ein „Musterbeispiel dafür, daß sich Schwerverbrechen nach fast 50 Jahren nicht mehr aufklären lassen“. Die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord bezeichnet Schußmann als „glatten Rechtsbruch“. Außerdem hält er es für fraglich, „ob solche Tötungen rechtlich als Mord qualifiziert werden“ können.

In seinem Plädoyer machte Schußmann den 82jährigen Wagner vom Täter zum Opfer. „Während man die Großen laufen läßt, will man jetzt Wagner für die Geschehnisse im August 1942 in Wieliczka verantwortlich machen.“ Sein Mandant habe keine Lobby, beklagt Schußmann. „Er ist kein Fixer, er hat kein Aids und ist kein Schwuler, folglich ist auch die Kirche nicht für ihn da.“ Große Teile der Bevölkerung verstünden diese Prozesse sowieso nicht mehr. Einige der Soldaten in Uniform nicken beifällig. Nach der Presse bekommen die Richter ihr Fett ab. „Die israelischen Zeugen können ja alles sagen, wer traut sich denn, einen solchen Zeugen wegen Falschaussage zu belangen.“ Schußmann forderte, seinen Mandanten freizusprechen und den Haftbefehl auszusetzen. „Wäre Wagner ein Terrorist, dann wäre er in einer besseren Lage, denn dann würde der Bundespräsident mit Gnadengesuchen überschüttet werden.“