KOMMENTAR: Ohne Zukunft
■ Die neue DDR-Reiseordnung
Schon die Überschrift – „Verordnung“ heißt das Werk – ist typisch deutsch. Liest man diesen Paragraphenwust von der ersten bis zur letzten Zeile, dann fragt man sich, welcher Zwangscharakter, welches Juristenhirn es sich ausgedacht haben mag. Die preußisch-sozialistische Beamtenseele blinzelt durch den grauen Zeilen- und Paragraphenfriedhof. Eine ganze Seite in der größten überregionalen Zeitung der DDR, dem 'Neuen Deutschland', füllt es im Wortlaut. Ganze Absätze und Unterpunkte beschäftigen sich mit den Verwandtschaftsverhältnissen, die gegeben sein müssen, und mit den genau bestimmten, festgesetzten Familienfeiern, die Voraussetzung für Westreisen der DDR-Bürger auch zukünftig sein werden: „Hurra, Oma ist tot, ich darf nach Köln“, so oder so ähnlich wird also weiter nach „humanitären“ Gesichtspunkten von Deutschland-DDR nach Deutschland-BRD gereist. Natürlich, das sind Verbesserungen: auch Cousinen und andere Verwandte, sogar solche dritten Grades, können jetzt ihre DDR-Verwandtschaft einladen. Hat die SED Lob für ihre neue Reiseordnung verdient? Offenbar muß man schon für kleine Verbesserungen dankbar sein.
Doch dabei wird eins aus dem deutsch-deutsch verengten BLickwinkel leicht übersehen: Auch die neue Verordnung ist so absurd wie die ganze verkalkte DDR-Staatsführung mit ihrer Weigerung, die Zeichen des politischen Moskauer Frühlings richtig zu deuten. Da singt Eva-Maria Hagen in Moskau gerade die Lieder Wolf Biermanns und die SED-Führung glaubt tatsächlich, mit der ihr eigenen Volkspädagogik könne sie der immer ungeduldigeren DDR-Bevölkerung mit solcher Art Verordnung das Dableiben versüßen.
Das wirklich Positive an diesem ganzen Paragraphensalat ist zugleich das Traurigste: Die Unerträglichkeit der DDR, das Nicht-mehr-Aushalten-Können, der resignierte Abgang aus dem eigenen Land ist jetzt juristisch geregelt. Sozusagen „Republikflucht“ als Teil der eigenen Gesetzgebung. Und dies ist letztlich auch ein Geständnis: Die SED-Führung hat den Glauben an die Zukunft ihres DDR-Sozialismus längst verloren.
Max Thomas Mehr
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