„WIEVIEL BRINGT ER AUF DIE WAAGE?“

Auf dem Auto-Markt in Ost-Berlin  ■  I.

Eine knorrige Stimme sprach mich von hinten an. Als ich mich umsah, blickte ich in das fein verästelte Gesicht eines Profis. Seine Augen waren nur halb geöffnet, er musterte mich durch die Sehschlitze. Das ist ein schwerer Junge, war mir sofort klar. Hinter ihm stand ein Typ mit Schiebermütze, in einigen Metern Abstand zwar, doch eingriffsbereit. „Was bietest du?“ gab ich zwischen den Zähnen hervorgestoßen zurück. Es kam lauter als beabsichtigt. Er ging um meinen Wagen herum. Der andere Typ schien mit seinen Schuhspitzen beschäftigt. Der Frager ließ ein Streichholz im Mund kreisen, als er wieder vor mir stand. Noch leiser als vorhin quetschte er heraus. „Mach einen Preis!“ - „13“, bemerkte ich so nebenher wie möglich. Er trat gegen das Vorderrad, wiegte den Kopf, wir schwiegen. Nach einigen Sekunden drehte er sich um und ging. „Wir kommen wieder“, ließ der andere verlauten und verschwand lässig schaukelnd in entgegengesetzter Richtung. Ich lehnte mich an den Wagen. Das war also nur ein Vorspiel, beim nächsten Mal schon konnte es ernst werden. II.

Der Gebrauchtwagenmarkt Ost-Berlins liegt am südlichen Stadtrand, direkt an der S-Bahnstation Grünbergallee. Er ist nichts weiter als ein staubiger Schotterplatz, umsäumt von großen alten Kastanien. Hier trifft sich jeden Tag, sommers wie winters, eine Schar von Verkäufern, Dealern und Käufern. Er ist der einzige freie Automarkt im Lande, deshalb kommen hierher auch Leute aus den fernsten Provinzen, in der Hoffnung auf hohe oder niedrige Preise, je nach Sachlage. Astronomisch sind sie allemal, das weiß jeder, der herkommt. III.

Der Kenner-Blick der Kunden streichelt die blankgeputzten Karossen. Jeder kennt sich aus und hat Bastel-Erfahrungen, weiß also auch, was echt ist und was Fassade. Rostschäden und Tachostände werden kritisch beäugt. Die Atmosphäre knistert, Blitze irrlichtern durch die Luft. Wenn du hier bist, ist der Braten in der Röhre, jetzt entscheidet dein Geschick. Und es geht für jeden um Tausende. Du nimmst die Parade ab. Alle Wagen blinken in der Sonne wie Unschuldsengel, die Karosserie mit Vaseline oder Autopudding gewienert, Reifen und Radkappen poliert, lächeln sie so verlockend wie gealterte Animierdamen. Zum Anbeißen, dieser 3ller Wartburg für schlappe 9.000 (25 Jahre alt) oder der kleine sportliche, rallyemäßig aufgedonnerte Zavasta 1100 (jugoslawische Fiat-Lizenz). Oder jener bei der Probefahrt grimmig brummende Lada (Baujahr 78) für nur 21.000. Du schlenderst zwischen den aufgepeppten Fahrzeugen und siehst: Die Kunst der Verpackung, sonst nicht zu den Stärken des Landes gehörend, hier probt sie den Aufstand. Deshalb ist Aufmerksamkeit wohl angezeigt. Denn die branchenüblichen Tricks sind geläufig. Schwarze Alkydharzfarbe auf den Fenstergummis, ein schicker Aufkleber auf dem Lackschaden oder der Haushaltsmixer an der Tachowelle macht schnell mal ein paar zehntausend Kilometer wett. Und es gibt keine Garantien, kein Reklamationsrecht und auch juristisch keine Handhabe. Denn im Kaufvertrag steht nur eine lächerliche Teilsumme.

Im rechten Teil des Marktes stehen die einheimischen Produkte. Da kann ein 81er Trabant noch Neupreis erzielen, ein 61er dagegen geht rotgespritzt als Liebhaberstück weg. Der Unterschied zwischen Oldtimer und Gebrauchtwagen ist Geschmackssache. Zwei bis drei Jahre alte Autos verkaufen sich mit 5- bis 8.000 Mark über Ladenpreis, bei über zehn Jahren Wartezeit auf einen Neuwagen kein Kunststück. Noch besser gehen fabrikneue Autos. Ein Trabant, soeben für 13 gekauft, schlägt hier 21 bis 22 heraus. Und je größer der Wagen, desto größer die Spanne... IV.

Gelangweilt lümmeln einige Verkäufer hinter dem Lenkrad, dösen in die warme Septembersonne oder lassen ganz uninteressiert das Autoradio dudeln. Hinter ihren Spiegelglassonnenbrillen und um ihre Mundwinkel spielt ein leichtes, ironisches Lächeln. Tritt ein Käufer heran, bemühen sie sich, die Haltung nicht zu verändern, und schütteln nur, war das geflüsterte Angebot zu niedrig, gähnend den Kopf. Erst wenn sie die richtige Summe gehört haben, weisen sie den Willigen mit einer lässigen Handbewegung auf den Beifahrersitz, zur Probefahrt durch die gegenüberliegende Kleingartensiedlung. Der Geschäftsabschluß wird dann natürlich unter vier Augen in einer stillen Nebenstraße getätigt.

Meist geht alles sehr leise. Da scheinen sie über den Schotter zu schweben, ohne Knirschlaute im Kies zu erzeugen

-und ohne Spuren zu hinterlassen. V.

Aber auch die potentiellen Kunden lassen äußerlich nichts von der fieberhaften Spannung spüren, die sie angesichts der 10-, 20- oder 40.000 in der Tasche (denn bezahlt wird immer bar und sofort) anfällt. Einige tragen verkrampft den Diplomatenkoffer, andere haben ihren eindruckschindenden und preissenkenden Kumpel dabei, den Autoschlosser, natürlich in verdeckter Montur. Tuschelnd streifen sie umher und legen so viel Abgeklärtheit ins Gesicht wie irgend möglich. Doch dann kommen sie, wie zufällig, am Objekt ihrer Begierde vorbei, quittieren den Preis mit einem höhnischen Schnauben, bieten einige Tausend weniger und gehen wieder. Das Gerangel um den Preis ist eröffnet. Denn sie kommen wieder, schauen schon mal unter die Motorhaube, betasten den Lack oder heben die Fußmatten hoch. Wenn beide Seiten hart bleiben, kann sich das noch den nächsten Tag fortsetzen. Doch irgendwann ist es dann soweit, beim einen rascheln fröhlich die Scheine in der Tasche, der andere fährt in seinem Auto davon. VI.

Die eigentlichen Auto-Haie aber verschlägt es kaum einmal auf jene rechte Seite, wo nur die Sprotten verhandelt werden. Nur ausnahmsweise, zum Beispiel wenn eine Frau ihren nagelneuen Wagen abstellt, wittern sie dort ein Geschäft. Zumeist sitzen sie müßig auf einer Bank, schwatzend und rauchend, oder fläzen in ihren Ladas und lassen die Beine herausbaumeln. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf den linken Teil, wo die großen Fische zu fangen sind. Hier stehen Ladas aller Größen und Altersklassen, Mazda 323, Golf C, Volvo und Citroen Pallas. In waschechter Yuppie -Ausstattung oder im Zuhälter-Look, stonewashed, mit Caribic -Shirt und Tropfenbrille, stecken sie hier ihr Terrain ab. Kaum einer lebt ausschließlich vom Auto-Deal, was auch zu gefährlich wäre. Im Dunkeln bleiben ihre Kanäle und Abnehmer. Sie sind Spieler und sie spielen mit den Strukturen des Mangels. Der Markt ist für sie eine Art Börse, die Autos nur Materialisation von blankem Bargeld. Pokerface und Schlitzohrgehabe gehören zum Spiel, der Schacher geht hin und her. Und eine bedürftige und finanzkräftige Oberschicht ohne heißen Draht in den parteistaatlichen Verteilungsapparat, die zu beliefern ist, gibt's allemal.

Die Preise sind prinzipiell fiktiv. Nur hartgesottene Insider wissen, was sie erwartet. Der Verkäufer eines zwei Jahre alten Lada-Kombis macht erst bei 60.000 die Augen auf, das gleiche Modell, fabrikneu, bringt sogar 80. Ein Golf Diesel wird für 100.000 angeboten, doch das überbietet der Peugeot 305 noch bei weitem. Fast alles ist hier zu haben, mit Geduld alles. Ein fast neuer Passat - ich weiß nicht, ob ich ihn für 135 gekriegt hätte, und der weiße Ford Sierra über die endgültigen Summen wird selbstverständlich Stillschweigen gewahrt. VII.

Abwechslung gibts hier nicht, hart ist das Geschäft und träge fließen die Minuten den Bach dieses Nachmittags hinunter. „Bitte unterlassen Sie die Verkaufsverhandlungen auf dem Parkplatz!“ ertönt es aus den Lautsprechern. Die Pächter mögen den Handel vor den Toren nicht. Denn sie nehmen Abstellgebühr von zehn Mark pro Wagen und Tag (gemäß Preiskarteiblatt 182285 - was immer das sei), und das für täglich 200 bis 400 Autos. Alle zehn Minuten hält eine S -Bahn hinter den Büschen, die Kommandos der Zugaufsicht schallen herüber. Doch hinter den gleichgültigen Gesichtern herrscht stets gestaute Spannung. Keinen Fehler machen, keine Chance vertun und sich erst recht nicht bei immerhin möglichen Kontrollen schnappen lassen!

Es ist eine Männerwelt, die hier zusammenkommt, um sich übers Ohr zu hauen. Um so mehr erregen die wenigen Frauen das heimliche Interesse. Manch biederer Kunde hat seine Tochter mit, der er zum Studiumsbeginn einen Trabbi schenken möchte. Oder jene große Blonde mit den kurzen Jeans-Höschen, die sich auf einem Zettel die Preise notiert und mit ihrem unterkühlten Blick die Macho-Männer zum Schwitzen bringt. Wer spricht vom Verkaufen? Warten können ist alles. VIII.

Demnächst wird der Markt wohl einen kleinen Schock durchmachen müssen. Wenn nämlich, wie angekündigt, zum Jahresende der neue Wartburg mit Viertakt-VW-Motor für 32 bis 35.000 in den Handel gelangt. Ein Schrei des Entsetzens ging bei der Nachricht durch die Bevölkerung, zumal nichts an dem seit 25 Jahren erfolgreichen Design geändert werden soll. So maßlos überteuert der „Neue“ schon im staatlichen Vertrieb ist, wird er hier das Preisgefüge sicher durcheinanderwirbeln. In den meisten Fällen allerdings noch weiter nach oben. IX.

Er ist nicht wiedergekommen. Auch nicht der Typ mit der Schiebermütze. Später habe ich meinen sechs Jahre alten Trabant-Kombi für die Quersumme des Datums verkauft (es war der 12.9.). Der Kunde kam von der Ostsee. Die Stelle im Kaufvertrag, wo sich der Käufer einträgt, hat er offengelassen. Sicher hat er zu Hause noch einen besseren Markt...

Peter Böthig