Gucklöcher in eine andere Zeit

■ Fotos aus der Geschichte der Arbeiterjugend - Beiträge zu einer sozialistischen Kulturhistorie in Deutschland

Ein Bilderbuch aus der Geschichte der Sozialistischen Arbeiterjugend, der Kinderfreunde (Falken), Naturfreundejugend und Jungsozialisten und darüber hinaus eine illustrierte Geschichte proletarischer Jugendbewegung vor 1933. Nach den Organisations- und Theoriegeschichten liegt damit als Abschluß eines Dokumentationsvorhabens historischer Fotos ein vielschichtiges Bild vom politisch bewußten Leben und Erziehen in sozialistischer Gemeinschaft vor.

Fotos, die 60 Jahre in Schuhkartons schlummerten, Krieg und Gewaltherrschaft überdauerten, bleiben von ihrem ästhetischen Anspruch her zuerst einmal persönliche Erinnerung. Und doch sehen Nachgeborene in ihnen mehr und anderes als der Fotograf zeigen wollte - wir stehen an „Gucklöchern in eine andere Zeit“.

Nicht zeigen wollte die junge Elite, das „Bauvolk einer neuen Zeit“, ihren Alltag im sozialen Elend; eine sozialdokumentatorische Fotografie unter der Leitlinie „Schönheit und Tendenz“ ist hier im sozialdemokratischen Milieu unterbelichtet geblieben. Auch wenn Erziehung und Freizeitgestaltung eine bessere Welt ermöglichen sollten, so konnte es nicht ihr Bedürfnis sein, sich in den freien Stunden des Elends zu vergewissern.

Was überwiegt, ist die Darstellung des besser Vorgelebten: lebensreformerischer Ausdruck ihres Kultursozialismus und ihrer zum Begriff des „Lagers“ zuzuordnenden humanistischen Maximen: Solidarität, gegenseitige Achtung, Freundschaft untereinander und mit den Völkern - gesellschaftlich bewußtes Handeln.

Den Umschlag der persönlichen Erinnerung zur kultur- und zeitgeschichtlichen Quelle bewältigt das Oer-Erkenschwicker -Team mit der Unterfütterung durch Verbandsgeschichte und einem interpretierenden Studium der Bildaussagen. Überzeugend dargestellt und zur Diskussion empfohlen die Thesen Gröschels, der mit den Fotos dem Verband und der Politik den Spiegel politischer Zeitgeschichte vorhält:

1908 sehen wir auf einem Gruppenfoto ordentliche junge Männer, die einem überzeugenden Partei- oder Gewerkschaftsführer im Äußeren Ehre machen: Vatermörder und Chemisette, Schirm und Hut signalisieren Ernsthaftigkeit und Teilhabe am Erwachsensein.

1915/16 wird diese ungebrochene Einordnung aufgelockert. Manchesterjacken und verwegene Federn an verbogenen Hüten, Schillerkragen und luftige Kleider der Mädchen zieren nun einen munteren Haufen. Inwieweit man hier (schon?) von der bürgerlichen Wandervogelbewegung lernte, mag in der Frage gefaßt werden, ob nicht vielmehr beide einen gesellschaftlichen Umbruch herausforderten.

1922 jedenfalls haben die Jungsozialisten, in der Weimarer Republik keine politische (Jugend-) Größe, für ihren Lebensstil alle Konventionen und Zwänge fallengelassen: Reformkleid, Kittel, Stirnband und Mandoline sind Outfit einer Gruppe, die sich anarchisch auf einer bunten Wiese drapiert, was Gröschel eine Heimkehr zur „Mutter Erde“ vermuten läßt. Die unbewegte und unbeweglich scheinende Gesellschaft und den Moloch Stadt hat man hinter sich gelassen - vor 66 Jahren auf dem Wege nach Ökotopia statt ins Zentralkomitee?

1931/32 scheinen die Enttäuschungen nicht nur der politischen Entwicklung gegen die Interessen der Arbeiterbewegung, sondern auch eigener alternativer Unternehmungen geronnen zu neuer Kampfkraft in Uniform. Eine fest gefügte, sich eng aneinander pressende Gruppe in Blauhemden, mit Riemen und Koppel, sich der eigenen Kraft vergewissernd.

Und auch in den Formen ihrer Freizeitgestaltung mag man diesen Entwicklungsgang noch einmal wiedererkennen: von der Jugendlichkeit und dem Gemeinschaftsgeist in den Hans-Sachs -Spielen zu Anfang der Weimarer Republik über die neuen künstlerischen Formen des Sprech- und Bewegungschores in einer frühen Blütezeit republikanischen Geistes schließlich hin zur politischen Revue und der Agitation angesichts der drohenden Gewaltherrschaft.

Man mag aus diesen Geschichts-Bildern ersehen, wie Bewegungen dem Kurs der Geschichte folgen und ihn steuern wollen, wie vorauseilende Utopie vom Immobilismus der Macht eingeholt und bedroht, damit aber wieder neu belebt wird: Eigensinn und geschichtliche Dialektik.

Damit ist eine zweite umfassendere Frage nach dem Wert dieser Erinnerungen für eine Kulturgeschichte aufgeworfen, die in Bilder der Feundschaft nur symptomatisch angerissen wird: Es gibt offensichtlich die historischen „Parallelen“ oder Übernahmen bürgerlicher kultureller Ausdrücke durch die proletarische Bewegung in einer bürgerlichen Gesellschaft. Was daran Trend, was Berührung im Ideengeschichtlichen ist, wäre zu klären als wichtiges Kapitel der sozialistischen Kulturhistorie in Deutschland. Das reicht hinüber in die Kultur der Arbeiterbewegung allgemein und auch in deren Kunstverständnis. Damit wäre schließlich eine Weiterarbeit an einer Foto-Ästhetik der proletarischen Laien - im Unterschied zu Arbeiterfotografen

-zu befruchten.

Was von der sozialistischen Jugendarbeit gesellschaftlich formend wirksam wurde? Im Mittelpunkt einer Antwort steht die Erziehung eines aufgeklärten, selbstbewußten und zugleich mit der Kraft der Solidarität geschützten einzelnen. Er hat Politik kennengelernt als Gebot der Haltung aus der Not der Klasse und eingeübt in der Selbstverwaltung der „Kinderrepublik“, nicht nur körperlich erfahren im nicht-egoistischen Arbeiter-Sport, und ist geprägt worden durch die Lebensgemeinschaften des proletarischen Milieus. Politische Bildung im Sinne einer thematischen Vermittlung ist hier nur ein (ernstgenommenes) Kapitel der Lebensgeschichte. Es ist Gröschel zuzustimmen, daß diese „politische Lebensschule“ vor den Gefahren nationalsozialistischer Verlockungen und Propaganda schützte. Auch nährten sich hier die Wurzeln für die Lebensdisziplin und politische Kraft für den Aufbau eines (oder zweier?) demokratischen Nachkriegsdeutschlands.

Klaus Peter Lorenz

Bilder der Freundschaft, herausgegeben vom Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick. Mit Beiträgen von D.Krebs, R.Ciesla, W.Erdmann, H.Eppe und R.Gröschel. Votum, Münster 1988, 200 Seiten, 222 Schwarzweißfotos, 36,80 DM