AKW-Techniker überlisten Warnsystem

■ Bedienungsmannschaft im AKW Stade verhinderte automatische Schnellabschaltung bei Störfall, ohne Ursachen zu kennen / Strombosse sind besorgt über Vertrauensverlust gegenüber Atomenergie

Stade/Bonn (taz) - Innerhalb von zwanzig Sekunden hat die Bedienungsmannschaft des Atomkraftwerks Stade am 18.September versucht, eine bereits angezeigte Turbinenschnellabschaltung zu verhindern, ohne die Ursachen für dieses „Ereignis“ zu kennen. Das bestätigten gestern leitende Mitglieder des Betreiberkonzerns „Preußen-Elekra“ (Preag) auf einer Pressekonferenz im Stader Atommeiler. Per Knopfdruck hatten sich die AKW-Techniker bemüht, ein geschlossenes Rohrbruchventil in der Frischdampfleitung wieder zu öffnen, um einer Schnellabschaltung zuvorzukommen. Doch das riskante Manöver, das auf Anordnung des TÜV zukünftig nicht wiederholt werden darf, mißlang.

Schon vor zwei Tagen war aus dem niedersächsischen Umweltausschuß durchgesickert, was die Preag-Manager gestern bestätigen mußten: Bei dem Vorfall war die Stader Bedienungsmannschaft „nahe an die Sicherheitsgrenzen herangegangen“. Wegen einer kalten Lötstelle in der Elektronik schloß sich das Rohrbruchventil der Frischdampfleitung, ein Vorgang, der normalerweise nach etwa 20 Sekunden eine Schnellabschaltung auslöst. In dieser kurzen Zeit wollen die Techniker nun mittels anderer Anzeigetafeln erkannt haben, daß es sich bei der Ventil -Schließung lediglich um einen Fehler in der Elektronik, also keine echte Gefahrensituation handelte, und bedienten den Hebel zur Wieder-Öffnung des Ventils. Laut Preag-Manager Hans Ulrich Fabian, der die Reaktionsschnelligkeit seines Teams ausdrücklich lobte, handelten die Techniker vorschriftsmäßig. Doch die Sache hatte unvorhergesehene Folgen: Wie der TÜV erst einen Monat später zufällig feststellte, war eine Frischdampfleitung in Folge der Schaltmaßnahmen um 18 Zentimeter „ausgewandert“, d.h. sie vibrierte. Dieser Zusammenhang wurde allerdings erst weitere 14 Tage später Mitte November erkannt, als die Betreiber sich schließlich zur Abschaltung und Untersuchung der ungewöhnlichen Vibration entschlossen hatten. „Tief besorgt“ über den „erneuten Vertrauensverlust“ gegenüber der Atomenergie zeigten sich gestern in Bonn die Bosse von sechs bundesdeutschen Energie-Unternehmen. Alle Atomkraftbetreiber seien entschlossen, ihrer Informationspflicht „noch umfassender nachzukommen“, kündigte der Vorstandsvorsitzende der PreußenElektra, Hermann Krämer, an - um sogleich das Gegenteil zu tun: „Biblis stand zu keinem Zeitpunkt vor einem größeren Störfall“, behauptete Krämer im Gleichklang mit dem Vize-Chef des Biblis-Betreibers RWE, Werner Hlubek. Entgegen anderslautenden Darstellungen von Experten hielt Krämer daran, fest, daß im AKW Biblis Kühlmittel über die Prüfleitung allenfalls innerhalb des Reaktor-Containments hätte austreten können. Angesichts des „außerordentlich hohen Sicherheitsstandards“ deutscher Reaktoren sehen die Strom-Bosse auch mittelfristig „keine Veranlassung“, über einen Ausstieg aus der Atomenergie nachzudenken.

Gabi Haas, Charlotte Wiedemann